Verschwinden oder Vakuum
- Sylvie Bantle
- 26. März
- 6 Min. Lesezeit

Novelle oder kurzer Roman über eine Frau, die mehr und mehr wahr-
nimmt, wie die Menschen um sie her sich innerlich auflösen. Wie ein
Massenphänomen erscheint es ihr, ein unsichtbarer Angriff aus dem All
auf die Menschheit – warum hat man sie verschont? Freunde und wen sie
kennt, wo sie Nähe sucht und wünscht, fast sieht es am Anfang nach ver-
sprechender Nähe aus. Doch scheint da etwas mysteriöses um sich zu
greifen, kaum hat sie jemanden berührt, schrumpft er in sich zusammen
wie Mimosen. Wohin entschwinden sie …
»Siehst du, wie sie alle verschwinden …«
»Mit wem redest du?«
Das Vakuum (Der Teufel oder das gefräßige Vakuum)
Das Flusscafé lag bereits in einiger Entfernung, als das Licht der Stra-
ßenlaternen die zwei Frauengestalten einfing und lange Schatten hinter
ihre Schritte warf. Die Gasse wie ausgestorben, eine friedliche Stille, kurz
nach Mitternacht. Die meisten Bewohner schliefen in ihren Betten. Die
zwei Frauen hatten viel geredet an diesem Abend. Obwohl sie sich nur
selten trafen, wurde nicht der kleinste Hauch einer Verzögerung spürbar,
sobald sie sich wiedersahen – als sei zwischen ihren Begegnungen die
Zeit stehen geblieben. Nicht, was ihre Einsichten und Erlebnisse betraf,
aber der gemeinsame Fluss ihrer Gespräche, ihre Nähe war von keiner
zeitlichen Distanz gezeichnet.
»… so ist es,« resümierte Berta A., »die Dinge ereignen sich nicht
ohne Grund! Es liegt an einem selbst, die Gelegenheit zu ergreifen, die
Chance zu nutzen. Es ist, als stehe man am Bahnhof und warte auf den
richtigen Zug. Plötzlich wird der eigene Name ausgerufen und obwohl
man es hört, steigt man nicht ein … und dann fährt der Zug ohne einen
ab …«
Annagret D. ging schlendernd neben ihr und hörte zu. Gleichzeitig
drängte sich das langsame »tack – tack« ihrer Absätze auf dem Pflaster
in ihre Ohren, ein leiser dominierender Takt, der ihren Kopf dazu veran-
lasste, wie in Zeitlupe einen langsameren zu wiegen, währenddessen Er-
innerungen lebhaft um Gehör turnten. Eine Geschichte, die in keinem Zu-
sammenhang zu stehen schien, wovon Berta A. gerade sprach, und den-
noch davon angeregt wurde. So verlief es immer, wenn sie sich trafen
und endlose Stunden redeten ohne Pause, ein Gedanke kickte einen an-
deren an. Diese Geschichte, die sich ihr nun aufdrängte, während die
Freundin über scheinbar völlig andere Dingen nachdachte, handelte von
einem Mann Anfang sechzig. Als sie das plötzliche Schweigen bemerkte
– und dies war eine weitere Eigenschaft ihrer seltenen Beziehung, dass
die eine stets zu spüren schien, sobald in der anderen ein neuer Funke
im Entstehen war – als ihr nun auffiel, dass Berta A. gar nicht mehr
sprach, begann sie, ihren Gedanken laut zu folgen.
»… der Mann ist Jüngster von einem halben Dutzend Kindern, er hatte
sich auf die Suche gemacht zu erfahren, wer sein Vater wirklich war.«
Sie gingen eine Weile schweigend, so als müsste jede für sich ein ei-
genes Erleben erzeugen, um nachzuspüren, wie es sich anfühlte zu er-
fahren, wer der eigene Vater ist.
»… dass er ein hoher Leutnant gewesen war, ist der Familie bekannt,
dennoch meinen alle, ja behaupten es sogar, der Vater habe nicht ge-
wusst, was mit den Deportierten geschah. Da fängt der Jüngste an, in
diesem verbotenen Familienschatz zu bohren, befragt jeden, die drei älte-
ren Schwestern, die noch leben, die Ehe- und Exmänner, Witwer, Nich-
ten, Neffen, und es kommen in den Gesprächen regelrecht Spannungen
auf, es gibt auch ein paar Tränen – bedrohlich emotional wird die Stim-
mung aber nur mit den Schwestern. Die Mutter spricht auch, eine freund-
liche, coole, naive Frau – sie starb wenige Jahre vor der Fertigstellung
des Films …«
Annagret D. blieb einen Moment stehen und blickte Berta A. mit wach-
sender Augengröße an.
»Jetzt erinnere ich mich wieder, es war ein Dokumentarfilm! Und dieser
Mann Anfang sechzig war ein Filmemacher! Denn einmal sagt er, wenn
seine Mutter noch leben würde, hätte er sich nicht getraut, diesen Film zu
machen. Stell dir das vor …«
Wieder gingen sie schweigend nebeneinander her. Ein Mann Anfang
sechzig wagt erst dann das zu tun, was er für richtig hält, nachdem seine
Mutter tot ist! Berta A. schauderte bei dem Gedanken. Sie würde darauf
keine Rücksicht nehmen, darin glaubte sie sich unbeirrbar, es gab nichts,
was sie nicht getan hätte, nur weil ihre Mutter noch lebte, »wie mächtig
eine Mutter sein kann, und wie machtlos ihr Kind, sogar wenn es bereits
selbst alt ist.«
Wieder vergingen ein paar Takte, »tack-tack …«, bis Annegret D. den
roten Faden aufgriff.
»Die älteste Schwester, also die Erstgeborene, war etwa zwanzig Jah-
re älter als er und auch schon tot. Sie hat am meisten gelitten und sich
wohl zu Tode gesoffen. Ehemann und Tochter sagen, zeitlebens habe sie
geweint, sobald das Thema auf den Vater kam, der nach der siegreichen
Niederschlagung der Deportationen als Verbrecher hingerichtet wurde.
Da war der Filmemacher gerade zwei Jahre alt gewesen, er kannte also
seinen Vater so gut wie gar nicht. Der nur wenige Jahre ältere Bruder des
Filmemachers hatte sich an einem Ort niedergelassen, der nicht weiter
von seiner Familie entfernt hätte liegen können: Australien! Auch er lebt
nicht mehr. Seine Tochter erzählt, wie schwierig es gewesen sei, etwas
über den Großvater zu erfahren. Als junger Teenager sah sie ein Foto von
den beiden, aber ihr Vater erklärte, das wäre irgend ein Onkel gewesen
…«
»Ich kann das einfach nicht nachvollziehen, ein Leben lang meinem
Kind so eine Lüge vorzuspielen … außer,« Berta A. blieb abrupt stehen
und blickte ihre Freundin wie einen kalter Schauer an, »außer man schafft
es nicht aus triftigen Gründen, die Wahrheit zu sagen – in diesem Fall,
diese Scham zu überwinden … Allerdings es gibt immer Gründe! Trotz-
dem, es ist tragisch, wenn man es im Leben nicht schafft, diese Gründe
zu überwinden …«
»Ja, wirklich tragisch …«
Sie nickten bedächtig. Das »tack – tack« ihrer Absätze auf dem Pflas-
ter zwang sie, den Takt ihrer Schritte einzuhalten. Die Nacht feucht und
kühl, strich eine frische Brise durch die Gassen und berührte ihre Gesich-
ter.
»… aber manchmal scheinen diese Gründe einfach zu heftig zu sein!«
fuhr Annagret D. fort, »… anyway, die Spurensuche nach diesem ge-
heimnisvollen Vater führt in Archive, wo in den Akten alles schwarz auf
weiß vermerkt steht. Da gibt es nichts zu deuteln, es ist völlig klar und
noch viel mehr als lediglich ‘etwas gewusst haben‘: Dieser Vater besaß
sogar Befehlsgewalt! Trotzdem bleiben die Schwestern stur, für sie sei
der Vater kein Verbrecher. Die eine erklärt: ‘Man muss auch mal aufhören,
es bringt ja nichts!‘ Die andern beiden werden beinahe böse und reagie-
ren mit Vorwürfen gegen die Art ihres ‘kleinen‘ Bruders – so als verstünde
der überhaupt nichts von all den Dingen und benehme sich nicht gebüh-
rend. In ihren Augen war es pietätslos, wie sich der kleine Bruder da ver-
hielt. Gegen Ende des Films sieht man das Grab des Vaters, auf einer der
unzähligen Täfelchen an der Wand der Toten seine verstaubten Initialen –
sonst nichts! Nur Initialen. Wer die Geschichte und seinen Namen nicht
kennt, weiß nicht einmal, wer damit gemeint ist.«
Wieder eine Weile das »tack-tack« ihrer Absätze auf dem Pflaster. Ein
verlorenes Echo kam von den Fassaden zu beiden Seiten zurück, ein
hohler Ton, der die Verlassenheit der Gasse eher multiplizierte als sie mit
Klang zu füllen.
»Zum Schluss spricht ein Poet, dessen Familie unter dem Kommando
dieses Vaters umkam: ‘Das Böse ist ein Vakuum, weil es ständig in sich
aufnehmen muss, ständig am Verschlingen ist. Das Gute genügt sich
selbst! Das Böse findet nie Befriedigung!‘«
Es blieb lange still nach diesen Worten. Assoziationen riefen sofort ein
schwarzes Loch hervor, unwillkürlich dachte Berta A. an Dantes Göttliche
Komödie: Der mehrköpfige unbewegliche Teufel in der Mitte, alles um ihn
herum Bewegende verschlingend. Schon als sie das Wort ‘Vakuum‘ hörte,
kam ihr das schwarze Loch in der Mitte einer leuchtenden Galaxie in den
Sinn.
»… es stellt sich die Frage, nachdem es ja die Macht der Gedanken
gibt – die wir ziemlich unterschätzen – ob wir das Universum verändern
könnten, also im Sinne von WIR erschaffen die Realität.«
»Du sagst es, Berta, und hier begreife ich endlich den Vorteil der
Schwerfälligkeit von Materie. Man stelle sich nur vor, jeder erschafft sich
gedanklich mit blitzschneller Wirkung seine eigene Realität – überleg mal,
was für ein Chaos!«
Sie lachten und malten die Vorstellung in ulkigen Farben.
»Und alle Menschen dazu zu bringen, dasselbe zu wünschen, kann
man ja gleich vergessen!«
»Ja, genau!« stimmte ihr Annagret D. zu und bekam ihren Lehrerin-
nenblick, »Deshalb muss die Verwirklichung, also die Materialisierung ei-
nes Gedankens jeder Idee äußerst träge vonstatten gehen. Ist es nämlich
das Falsche, die falsche Richtung, kann man immer noch rechtzeitig um-
kehren …«
»Könnte!« warf Berta A. heftig ein, »Sollte man meinen!«
Sie hielten an der Ecke Steinstraße/Holzweg an, Berta musste hier ab-
biegen, jedoch waren sie mit ihren Gedanken noch nicht zu Ende.
»Es scheint, hier ist irgend etwas schief gegangen in der Evolution,
denn Umkehren tun die Menschen nicht. Sie stehen wieder auf, wenn sie
noch können – nach einem Totalzusammenbruch oder was immer – und
machen lediglich ein bisschen anders weiter.«
»Ja, nur die Kostüme verändern sich!« nickte Annagret D. und begann
mehrmals zu gähnen.
Auf einmal fühlte sie erdrückende Müdigkeit. Es war spät. Sie verab-
schiedeten sich schnell, ahnten aus Erfahrung, jeder neue Gedankenfun-
ke würde sie für weitere Stunden hier festhalten. Oft gaben sie diesen
Energien nach, aber heute waren keine Exkursionen mehr erlaubt – mor-
gen mussten beide früh raus.
»Und dank dir für die Kassette!« rief Berta A. der Freundin hinter her
und Annagret D. drehte sich mit einem kurzen Winken um.
Das »tack-tack« ihrer Absätze auf dem Pflaster teilte sich und verlor
sich in verschiedenen Richtungen. Als wäre es nie da gewesen, so still
lag dann die kleine Straßenkreuzung.
Comments