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Narren Haus

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 25. März
  • 6 Min. Lesezeit

Das Kinder- oder Narrenhaus


Namen:


Bavaresa (Bavaresi)

Italiana (Siziliana)

Lissa-Mona (Lissa Bonna, Lis Boba, Liesa Bonn)

China (Kina)

Greco

Indi

Ami


Heute Nacht hatte ich einen Traum, der mich auf eine Idee brachte…

Bavaresa und Italiana lebten in einer Art Kinderhaus für Erwachsene, ich nannte es zuerst

Sozial-Haus. Als Freie Mitarbeiter wohnten sie dort und hatten jeweils ein Zimmer im

Erdgeschoß.

Es war immer etwas los in diesem renovierungsbedürftigen Haus. Vorwiegend junge

Mädchen kamen hier her, obwohl die Tür für alle offenstand. Die jungen Mädchen sahen

teilweise überhaupt nicht so aus, wie man sich junge Mädchen vorstellte, und sie verhiel-

ten sich auch nicht so. Ihre Vorliebe für - im konventionellen Sinne - unkleidsame Klei-

dung gab ihrem Äußeren einen schlampigen Touch; das konnte bis zur Verwahrlosung

reichen: die Jeans zerschlissen oder viel zu groß, Hosen und schlotternde Oberteile aus

Armee- und Vampirbeständen… Das Hairstyling im Zaus-Look erinnerte an Campingta-

ge an verlassenen Stränden, der Blick an wilde Zeiten… doch die Haut war blaß und ir-

gendwie blutleer, und die Bewegungen unentschlossen, ohne Ziel.

Es waren junge Mädchen voller Protest, dafür ent ammt anzuklagen und zu verteidigen,

doch was sie eigentlich anklagten und verteidigten,das wußten sie nicht wirklich, und vor

allem, warum, wofür sie das taten.

Es war die gefährliche Sorte von jungen Mädchen, die mit einem Fluch von doppelter Ge-fährlichkeit leben mußten: Zum einen machten sie sich beim Rest der Welt ziemlich unbe-liebt und zum andern blühte ihnen Bitterkeit in höchster Vollendung und Einsamkeit

ohne Ende, wenn sie am Druck ihrer Wut scheiterten. Schafften sie es aber, ihre Not zu

nutzen, erkannten sie darin eine Tankstelle, die ihnen machtvollen Lebenssaft spenden

konnte.

Jene Sorte von jungen Mädchen aber, die nicht einmal Wut verspürte, verirrte sich höchs-

tens aus Versehen hier her und nahm angesichts der gewöhnungsbedürftigen Eindrücke

sofort wieder Reißaus. Das, was sie dort bei ihren Artgenossinnen sahen wirkte äußerst

beunruhigend auf ihre für ach so stark gehaltene Psyche.


Das alte Gemäuer hatte viel erlebt. Es war stabil, fest in seiner Statur mit den dicken Wän-

den. Es bedarf sehr viel Zeit, so ein Haus zu bauen, Stein auf Stein zu legen, Ziegel auf

Ziegel. Damals nahm man sich, aus irgendwelchen Gründen auch immer, viel mehr Zeit

als heute. So entstanden Ecken und Kanten, Simse und Absätze, die einen zuweilen schon zum Verweilen verführen konnten, und zum Grübeln; die Unsinnigkeit ihrer Existenz er-schien dem modernen Augen nur offensichtlich…


«Sie können doch nicht nur dazu dienen, daß man sich fragt, wozu sie da sind?!» sinnierte

Italiana laut vor sich hin und nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino.

«Wovon redest du?» stutzte Bavaresa, «Meinst du die Mädels?»

Bavaresa und Italiana saßen nebeneinander oben auf der drittletzten Treppenstufe, so wiesie es immer taten, wenn sie nachmittags eine Tasse Cappuccino tranken oder auch sonst, wenn es nichts anderes zu tun gab. Weil dieses Treppenstück aus neun Stufen bestand, war es von unten die siebte Stufe. Es war ihr Lieblingsplatz. Von dort oben hatten sie den besten Überblick, den man in diesem verwinkelten Haus überhaupt haben konnte.


Italiana lachte. «Nein, nein, ich meine nicht die Mädels, ich habe nur eben über die unge-

wöhnliche Architektur dieses Hauses nachgedacht, die mir oft so unsinnig erscheint…»

Sie deutete zu dem Mauervorsprung hin und sagte: «Schau, dieses Eck zum Beispiel. Was haben sich die Erbauer dabei gedacht? Wofür soll es nützlich sein?»

«Mmh…» kam es unentschlossen zurück, dann verstummte Bavaresa vollends und ver-

sank in ihren eigenen Eindrücken.


«Habt Ihr Memory?» rief eine Stimme von unten herauf. Rythmisches Poltern rennender

Füße näherte sich. Dann stand China am unteren Treppenabsatz und blickte fragend nach oben. Es kam keine Antwort. In Schweigen gehüllt starrten Italiana und Bavaresa auf den Mauervorsprung.

«He, ihr zwei! Seid ihr verzaubert?»

«Was?!» riefen die zwei gleichzeitig auf ihrer dritten Stufe.

«Gibt es hier ein Memory im Haus?» fragte China ungeduldig, als stecke sie in einer wich-

tigen Sache, die keinen Aufschub duldete. Ihre Haare zerzaust und pinkfarben, ihr Gesicht

ungeschminkt, ihre Lippen voller Willen, der Overall von einem Riesen ausgeliehen…

«Laß mich mal überlegen…» sagte Bavaresa und nahm einen Schluck von ihrer Tasse.

«Was ist denn ein Memory?» erstaunte sich Italiana, sie hatte das Wort nur im Englischen

gehört. »Memory heißt doch ‘Gedächtnis‘…« überlegte sie laut, demnach hatte China ge-

fragt: Gibt es ein Gedächtnis im Haus?

«Das ist ein Spiel. Hast du in deiner Kindheit nie Memory gespielt?» Bavaresa war kurz

angebunden, sie mußte nun überlegen, wo das Memory sein könnte, das sie vor einiger

Zeit irgendwo gesehen hatte.


Lieber blind als sehend … schrieb China an die Wand. Mit energischen Pinselstrichen mal-

te sie es rot und schwarz auf das schmutzige Weiß. Sie war wütend. Sauwütend…


Lissa-Mona war immer seltener gekommen. Es schien ihr besser zu gehen, mit ihrem Le-

bensgefährten. Von Trennung war nicht mehr die Rede, von Heiraten aber auch nicht. Zu-

letzt hatte sie sogar China angefaucht, die zwei Tage nach Lissa-Monas heftigem Zusam-

menbruch mit gutem Rat auf die Verzweifelte zuging. Die Weinkrämpfe der Freundin wa-

ren China so nahe gegangen, daß sie daraufhin an nichts anderes denken konnte. Es muß-te endlich etwas geschehen, damit Lissa-Monas Leiden eine Wende nahm. Und als sie sich schließlich wieder sahen, war es für China selbstverständlich, ihre Einsichten mit der Be-troffenen zu teilen.

»Kannst du nicht einfach mal etwas sein lassen?« fauchte sie die überraschte China an,

»Mir ist das zuviel! Ich will jetzt nicht darüber reden, du bist wirklich anstrengend, ich

hab keine Lust, immerzu Seelenstriptease vor dir zu machen!«

China war baff, verletzt, enttäuscht, und so wütend, daß sie Lissa-Mona an die Gurgel

hätte springen wollen. Was sie natürlich nicht tat. Und so packte sie all ihren Haß in einen

vernichtenden Gegenschlag und versuchte dennoch so cool wie möglich zu wirken.

»Paß mal gut auf,« begann sie mit beherrschter Stimme und ihre Nüstern blähten sich ge-fährlich auf, »hier geht es allein um deine Probleme und nicht um meine! Wenn du nicht verträgst, daß man dich ernst nimmt, auf dich eingeht und dir antwortet, dann nerve die

Leute nicht mit deinen Heuldramen…«

»Du bist so massiv!« entgegnete Lissa-Mona anklagend und mit beleidigter Prinzessin-

nenstimme zierte sie sich, überhaupt noch etwas zu sagen, »Ich muß jetzt gehen.« Sie

drehte sich um Richtung Tür, in ihrem Gesicht weder Wut noch Traurigkeit, nur ein

furchtvoll fragender Blick, der Dümmlichkeit so nahe, daß es für einen Maler die größte

Herausforderung gewesen wäre, hätte er versuchen wollen, diesen feinen Unterschied

deutlich zu machen…

So drehte sie sich also um, mit steifer Zierlichkeit und furchtvoll fragendem Blick und

doch konnten die Finger - ebenso wie die dramatische Tosca-Stimme - nicht verbergen,

daß die Augen eines unsichtbaren Publikums allzeit auf sie gerichtet waren, um einzig ih-

rem Auftritt beizuwohnen. Von jung an dazu trainiert, für das Besondere auserwählt zu

sein, konnten sie sich in einer Art und Weise spreizen, was den kritischen Betrachter etwas befremdete, denn ohne es zu beabsichtigen, zu zensieren oder gar darüber nachzudenken,

ob es das gibt oder nicht, mußte er unwillkürlich an eine spastische Ballettöse denken.

So entfernte sich die kleine Diva, deren Arroganz man auf den ersten Blick gar nicht ein-

mal ahnte, verließ festen Schrittes die Bühne, um eine andere zu betreten. Denn hier ging

es ihr an den Kragen, hier wurde es ihr zu brenzlig, weil sie von der schrecklichen Wahr-

heit nichts wissen wollte. Sie hatte sie so gut kaschiert, schon immer, das ist ihre Hauptbe-gabung. Es machte ihr Angst, solche Höllenangst, daß sie später bestimmt wieder glauben

würde sterben zu müssen. Jetzt allerdings merkte sie nichts von dieser Panik, sie fühlte

sich nur belästigt, belästigt von der Freundin, die ihr mit Gewalt die Augen aufreißen will,

um etwas Häßliches zu sehen. Sie aber will so häßliche Sachen gar nicht sehen, sondern


Harmonie und ihren Frieden haben! Und außerdem, so schlimm ist ihr Leben ja auch

wieder nicht…

Wütend blieb China zurück. Sie hatte Gewalt erlebt, Lügen, Anklagen, Intrigen, alles, was

der Teufel auf diesem Planeten begehrt, aber eines haßte sie am meisten: Ignoranz.

Und Menschen, die ihrem eigenen Leben gegenüber ignorant waren, erschienen ihr als die Zerstörer schlechthin. Denn, im Gegensatz zu offensichtlich bösen oder streitlustigen Per-sonen wie zum Beispiel sie selbst, war es bei den Ignoranten nicht wirklich sichtbar und am allerwenigsten für die anderen! Und wer es tatsächlich sah, wie China, der wurde ein-fach aus dem Kreis hinausgeworfen. Die Ignoranten wollen keinen in ihrer Mitte haben,der ihnen sagt, wie feige sie sind und daher so blind! Sie verschanzen sich mit dem allersi-chersten Schutzpanzer: Sie sind nicht angreifbar!

China rauft sich die Haare. Sie könnte die Wände hoch gehen, auf sie einhämmern, alles

klitzeklein schlagen, schreien, toben…

Aber was können die Wände dafür, daß sie sich jetzt so fühlt? Ach und sie könnte auch

laut los heulen, weil sie nicht nur wütend ist, sondern wütend und traurig. Das ist die

schrecklichste Mischung.




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