Die Fremde
- Sylvie Bantle
- 21. März
- 12 Min. Lesezeit

Film-Script (nach der Geschichte: Der Preis der Wahrheit aus Ordner ‘Lügen-und-wah-
re-Märchen)
Anfang:
Schwarzer Hintergrund, in weiß: Titel. Aus der Stille taucht Geräuschteppich der
Münchner Fußgängerzone auf.
Das Schwarz verblaßt, Titel verschwindet, gleichzeitig erscheint schwarze Schrift
auf weißem Hintergrund: Ein Film von…
Allmählich wird langsame Bewegung im Hintergrund erkennbar, während sich
Schrift au öst, es ist der Himmel. Sanfte, ‘ungerade‘ Bewegung, ähnlich einem
leichten Schwindel, führt das Auge hinunter in grüne Landschaft, ndet schließlich
die dunkelgrüne Urwald-Insel, das Caw, dem sich der Zoom nähert, ebenso unstet
wie bisher, bis zum Close-up, das sich in Unschärfe verliert…
Gleichzeitig löst sich Geräuschteppich der Münchner Fußgängerzone auf und O-Ton
der Umgebung taucht auf - Überblendung ins Innere des Caw…
Nun statisches Bild: ein alter Schamane sitzt neben einer Stein gur der Schlan-
gengöttin am Boden. In einer fremden Sprache erzählt er die alte Geschichte eines
tanzenden Gottes, seine Stimme taucht wie aus weiter Ferne auf und kommt lang-
sam näher.
Nach kurzer Zeit spricht weibliche Stimme (der Fremden) aus dem OFF:
»Es ist lange her, ich reiste durch ein fernes Land… Dort traf ich einen alten Schamanen, er
zeigte mir das Reich der Schlangengöttin und erzählte mir eine alte Geschichte… Von ei-
nem tanzenden Gott: Pakkanar. Er war das elfte von zwölf Kindern und wuchs bei den
armen Korb echtern auf… In seiner Kindheit spielte er mit Wischnu, der später zum
höchsten aller Götter aufstieg. Pakkanar wurde ein Schamane mit magischen Kräften - er
weiß alles über den Kosmos. Eines Tages beschloß er, seinen alten Freund aus Kindertagen
zu besuchen. Doch Wischnu ließ durch seine Wachen ausrichten, er kenne keinen Pakka-
nar. Das ärgerte den Schamanen und mit Hilfe seiner Magie bannte er den höchsten aller
Götter in Bewegungslosigkeit. Daraufhin ge-riet das ganze Schloß des Wischnu in Auf-
ruhr, kein Heiler vermochte den höchsten aller Götter zu heilen. Als das Orakel befragt
wurde, nannte es den Pakkanar als einzigen Heiler. Eine Gesandtschaft wurde ausge-
schickt, ihn zu suchen. Sieben Jahre aber mußten Wischnu‘s Gesandte durch die ganze
Welt reisen, bis sie Pakkanar meditierend in einer Lotusblüte fanden…«
Langsame Überblendung zu Gesicht der Fremden, die durch die Fußgängerzone in
München geht.
Stimme der Fremden aus OFF spricht weiter: »…Pakkanar aber ließ sich nicht drän-
gen. Erst nachdem er seine Meditation beendet hatte, begab er sich zu seinem alten
Freund Wischnu und löste den Bann…«
Stimme der Fremden aus OFF versiegt in der Ferne, gleichzeitig wird O-Ton lau-
ter…
H a u p t - Te i l I :
In Fußgängerzone in München, O-Ton, Bild öffnet sich.
Die Fremde geht durch die Fußgängerzone, deutlich langsamer als die Masse. Ihr Schritt
ist gemächlich, sie bleibt auch mal stehen und schaut nur…
Einige harte Schnitte von der Szenerie, Beobachtungen.
Menschen, die eilen, Läden, Schaufenster, Angebote, Verführungen… eine junge Pennerin
sitzt an eine Hauswand gelehnt am Boden, aus einer Flasche Billigsekt trinkend, eine
Schale (oder Napf oder Blechdose) vor sich, in die manch ein Passant Münzen hineinwirft.
Die Fremde kommt bei der Pennerin vorbei, bleibt stehen, betrachtet sie, spricht sie an.
Fremde: »Darf ich mich eine Weile zu ihnen setzen?«
Die Pennerin blickt sie verdutzt an, nach einer Weile ein fast unmerkliches verwirrtes Lä-
cheln um ihren Mund.
Die Fremde setzt sich neben die Pennerin und schaut den vorbeieilenden Passanten zu.
Lange sagen sie nichts. Stumm bietet die Pennerin der Fremden die Flasche an, die mit
dankender Miene einen Schluck nimmt. Dann schaut sie wieder die Menge an.
Close-Up‘s von den Beinen der vorbei eilenden Passanten.
Fremde (fast schmunzelnd): »Auf diese Weise kann man wenigstens einmal sehen, was
die Menschen für Beine haben…«
Daraufhin schaut auch die Pennerin etwas gezielter die Beine der Passanten an.
Pennerin: »Wo die alle hingehen…?«
Fremde: »Man könnte meinen, sie hätten ein ganz bestimmtes Ziel…«
Pennerin: »Und wie eilig sie es haben…«
Nach einer Weile.
Fremde: »Warum sitzt du eigentlich hier?«
Pennerin (achselzuckend): »Ich brauch Kohle! (dann au achend) …und außerdem
hab ich kein Ziel.«
Fremde: »Warum arbeitest du nicht?«
Pennerin (schaut die Fremde entgeistert an, lacht abfällig): »Wozu dieser Streß!?«
Nach einer Weile.
Fremde (mit Verwunderung, wie laut nachdenkend): »Ich habe auch kein Ziel
mehr…«
Die Fremde hält inne, erstaunt über ihre Worte, fährt in Gedanken fort.
Fremde: »Früher bin ich einem Ziel hinterher gerannt, das ich nicht einmal kannte - ich
habe die ganze Welt bereist… Und überall fühlte ich mich wohler als hier, wo ich geboren
bin… Erst viel später begriff ich, warum: Weil ich auch hier eine Fremde bin! Dort drau-
ßen in der Welt hat das Gefühl gestimmt, dort war ich eine Fremde… Aber hier, in der ei-
genen Heimat eine Fremde zu sein… das ist unangenehm… nicht schön… schmerzhaft.«
Danach Schweigen. Passanten. Manchmal fallen Münzen.
Nach einer Weile.
Fremde (mit einem leichten Lächeln): »Inzwischen laufe ich nicht mehr weg vor die-
sem unangenehmen Gefühl. Ich bin eine Fremde in der eigenen Heimat! Und heute weiß
ich, daß ich damit nicht einmal alleine bin. Wie viele sind Fremde in der eigenen
Heimat…!? (blickt die Pennerin an) …auch du. (wieder mit Blick zu den Passanten,
nachdenklich) …Aber ich weiß es… (spricht nun wie in Trance) …ich weiß es… des-
halb bin ich eine Bedrohung für die Menschen…«
Pennerin (fast empört): »Was redest du?!«
Fremde (blickt die Pennerin an, ernst): »Du hältst mich für verrückt? Nein, nein, ich
weiß, was wahr ist… das ist den Menschen bedrohlich, bedrohlicher als jeder Krieg…«
Die Pennerin schaut verständnislos die Fremde an, die beobachtet, wie die Passanten die
stumpfen Blicke auf nirgendwo geheftet vorbeihetzen. Dann dreht sich die Pennerin eine
Zigarette. Die Augen mit Nachdenklichkeit gerahmt, scheint ihre ganze Aufmerksamkeit
auf die Worte der Fremden gerichtet, die jetzt schweigt und schaut. Manchmal klirrt eine
Münze auf das harte Blech der Dose zu ihren Füßen.
Die Pennerin zündet sich die Zigarette an, inhaliert kräftig.
Pennerin (Entrüstung in der Stimme): »Wie kannst du behaupten, daß du eine Bedro-
hung für die Menschen bist?«
Fremde (ruhig): »Weil es wahr ist…«
Pennerin (leicht ereifert): »Aber du sitzt doch nur da! Was tust du denn, was die Men-
schen bedroht?«
Die Pennerin versteht das nicht, was die Alte da redet.
Die Fremde sagt lange nichts, dann wendet sie sich plötzlich vertraulich der Pennerin zu
und fragt eindringlich üsternd:
Fremde: »Warum sitzt du hier?«
Die junge Pennerin völlig perplex über solch eine Frage antwortet:
Pennerin: »Na wegen der Knete!«
Fremde (feststellend): »Du weißt nicht, warum du wirklich hier sitzt!«
Die Pennerin zuerst verunsichert entscheidet sich nun, die Worte der Fremden lustig zu
nehmen, sie lacht.
Pennerin: »Bestimmt kannst du es mir sagen!«
Fremde: »Du willst also die Wahrheit wissen?«
Sie blickt die Pennerin mit einem seltsamen Schleier in den Augen an.
Pennerin: »Ja! Nun sag schon!«
Fremde: »Und du hast gar keine Angst?«
Pennerin: »Wovor?«
Fremde: »Vor der Wahrheit.«
Pennerin: »Na, wenn du sie überlebt hast, werde ich sie auch überleben!«
Sie kichert und nimmt einen kräftigen Zug aus der Wein asche.
Pennerin: »Magst du nicht doch einen Schluck?«
Fremde: »Nein, nein, untertags macht mich das müde.«
Pennerin: »Na, wenn schon?! Dann machst du halt ein Nickerchen!«
Fremde: »Ich will den Tag nicht verschlafen!«
Pennerin (lachend): »Was versäumst du schon Großartiges?«
Die Fremde schmunzelt.
Fremde (fast üsternd): »…das Leben…«
Sie holt aus ihrer Tasche einen Apfel und ein kleines Messerchen, schneidet Schnitze, ißt
mit genüßlichem Schmatzen, gibt auch der Pennerin ein Stück.
Währenddessen.
Pennerin (etwas gestelzt): »Wolltest du mir nicht die Wahrheit über mein Dasein offen-
baren?«
Fremde (abwehrend): »Es ist bestimmt besser, wenn du sie nicht erfährst…«
Sie kaut den Rest des Apfel klein und spuckt die Kerne aus.
Fremde (freundlich erklärend): »Es könnte dir wehtun.«
Während sie die Apfelschalenreste zwischen den Zähnen mit Zunge und Fingernägeln
entfernt, scheint sie angestrengt zu überlegen. Plötzlich hellt sich ihr Gesicht auf.
Fremde »Aber ich zeig sie dir, die Wahrheit, und laß sie dich fühlen… einverstanden?«
Pennerin: »Na, klar, leg schon los!« (Beinahe ein An ug von Genervtheit in der Stimme.)
Langsamer Zoom auf die Fremde bis bildfüllendes Close-Up von ihrem Gesicht.
Die Fremde beginnt nun einen leisen tiefen Summton auszustoßen, der an den jammern-
den Gesang alter Indianerinnen erinnert, und ihre Augen richten sich auf einen Ort in un-
endlicher Ferne. Eine ganze Weile sitzt sie so da, dann geschieht etwas äußerst Unbegreif-
liches…
Langsame Überblendung auf Close-Up der Pennerin.
Die Pennerin bemerkt erst nichts, wundert sich nur, weil eine bleierne Traurigkeit aus ih-
rem tiefsten Innern aufsteigt. Der Stimmungswandel verursacht Unbehagen. Unbenenn-
bare Traurigkeit bedrängt sie von allen Seiten und löst hinter ihren Augäpfeln solch einen
enormen Druck aus, daß Tränen heraus ießen. Das salzige Seelenwasser sucht den Weg in
die Freiheit, will nur gesehen werden, nur das… Die Traurigkeit, die damit einhergeht,
lähmt all ihre Glieder…
So sitzt die junge Pennerin da, zu nichts anderem fähig als zu sitzen und zu schauen, und
gezwungen der Traurigkeit zuzuhören. Was dann ihre Augen sehen, erscheint ihr wie ein
wahrgewordener Alptraum.
Schnitt auf die Passanten.
Einige der Passanten, die eben noch irgendwie zielorientiert die Blicke geradewegs ins
Leere gerichtet im Laufschritt in alle Richtungen vorbeihetzten, verlangsamen mit einem
Mal ihre Schritte und blicken mit Schrecken um sich…
Schnitt auf die Pennerin.
»Was geht hier vor?« üstert die Pennerin lautlos - man kann die Worte nur von ihren
Lippen ablesen. Sie kann nicht begreifen, was vor sich geht. Sie ist wie gelähmt, wie von
einer fremden Kraft gezwungen zuzuschauen, was nun geschieht…
Schnitt auf die Passanten.
Wie von einem Zauber ergriffen, halten einige der Passanten plötzlich inne und blicken
mit Schrecken und Wundern in den Augen umher, als sehen sie zum ersten Mal, was da
wirklich ist. Manche bleiben kraftlos stehen, außerstande weiterzugehen, manche weinen
haltlos wie kleine Kinder, die einen still, die andern laut schluchzend, einige sacken gar zu
Boden, werden ruckartig von unerträglichen Wuchten getroffen, als würde sie jemand
niederschießen. Ein gut gekleideter Mann mit teurem Aktenkoffer rennt schreiend davon,
ein hin und her geworfenes Echo hinter sich her ziehend. Kaum verschwunden kehrt er
schon wieder zurück, Panik im Schritt und die Hölle im Gesicht. Er schreit so laut, als
plagten ihn wahnsinnige Schmerzen…
Eine junge Frau (auch Patrizia, die die Pennerin spielt?), die sehr sexy gekleidet ist, bleibt
unmittelbar stehen, gebannt von der plötzlichen Heftigkeit von Emp ndungen, die sie be-
fallen. An der Hand ihr kleiner Sohn. Beinahe wirkt ihre Aufmachung anbiedernd. Eben
kam sie noch stolz des Weges, bricht sie nun schreiend zusammen, wälzt sich am Boden,
so als habe sie heftige Bauchschmerzen. Leute bleiben überall stehen, wo sich etwas der-
gleichen ereignet, so auch bei ihr. Sie sind verwirrt, ob dies nun ein ernster Notfall sei oder
nur der hysterische Ausbruch einer Verrückten. Mehr Leute bleiben verunsichert stehen,
hier und dort, blicken betroffen auf die Schreienden und sich wild Gebärdenden, die eben
noch schick und sauber gekleidet waren. Manche schütteln ungläubig den Kopf und ge-
hen dann weiter, andere schütteln ungläubig den Kopf und gehen nicht weiter. Doch selt-
samerweise geht niemand zu den Ausgerasteten hin, um sie zu berühren, in den Arm zu
nehmen, zu besänftigen, so als sei dies ein Fall, wo keiner helfen kann. Geradezu ein hoff-
nungsloser und bedauernswerter Fall…
Schnitt. Close-Up auf die Fremde.
Sogar die Fremde erschrickt über das Ausmaß der Verzwei ung dieser Menschen, die sich
am Boden winden, als hätten sie den Verstand verloren. Sie hält augenblicklich in ihrem
Summton inne.
Schnitt. Die schicke junge Frau, neben ihr der stille beobachtende Junge. (Film
läuft rückwärts!)
Von den zerrissen Sätzen, die sie bereits heiser vom Schreien unkontrolliert ausstößt, ist
nur wenig zu verstehen - da Rückwärtslauf!
Junge Frau: »Mama! …Mutter …Du hast mich nie geliebt… Nein… Nie… nur Weihnach-
ten! …Vater! Du warst nie für mich da… «
Die Passanten gehen nun rückwärts - wegen dem Rückwärtslauf - was auch den Bewe-
gungen der zusammengebrochenen einen leicht surrealen Touch verleiht.
Schnitt. Close-Up auf die Fremde.
Tränen der Ergriffenheit laufen der Fremden über das Gesicht.
Fremde (fast unhörbar üsternd): »So sieht es aus, wenn die Hülle abfällt… wieviel
Aufwand, den Schrei nach Liebe zu verstecken…«
Schnitt. Größere Perspektive auf die Passanten und die Zusammengebrochenen, in
der Mitte die schicke junge Frau, neben ihr der stille beobachtende Junge. (Film
läuft rückwärts!)
In diesem Moment tritt eine Besserung ein. Die Verzweifelten verstummen mit einem mal,
setzen sich verwirrt auf und schütteln den Kopf, als würden sie eben aufwachen. Sie wi-
schen sich mit den Händen Tränen aus dem Gesicht, streichen die Haare zu einer Frisur
zurecht, greifen nach der Handtasche oder dem Aktenkoffer, klopfen den Staub von der
Kleidung… Die ungläubigen Zuschauer gehen kopfschüttelnd weiter (rückwärts!).
Schnitt auf die Pennerin und die Fremde.
Die Pennerin sieht dies alles, die Sekt asche in der Hand. Sie setzt sie an den Mund und
trinkt sie in einem Zug leer. Das Gesicht über utet von Tränen, die Augen wirr. Da dringt
aus der Tiefe ihres Magens ein Heulen wie das eines wilden Tieres und in einem Riesen-
schwall (was man nicht sieht, weil sie sich dazu umdreht) erbricht sie alles, was sie so ah-
nungslos in sich hineingeschüttet hatte…
Die Fremde ist verstummt, blickt geradewegs in die Kamera, regungslos.
Schnitt. Totale, Perspektive von oben (Film läuft rückwärts!)
Die Passanten gehen nun hektisch rückwärts, während die ehemals Zusammengebroche-
nen langsam vorwärts gehen.
H a u p t - Te i l I I :
Schnitt. Eine ruhige Straße, später Nachmittag.
Die Fremde geht die Straße entlang, gedankenversunken. Vor einem gemütlichen Café
bleibt sie plötzlich stehen, nach kurzem Zögern geht sie hinein.
Schnitt. Innere des Cafés. Einige Gäste an Tischen.
Über der Theke in der Mitte des Cafés ist ein großer Fernseher angebracht, die Fremde
bleibt wie gebannt davor stehen. Gerade laufen die Nachrichten. Das Hauptthema ist der
bevorstehende Angriff auf das Land des Diktators.
Schnitt. Die Fremde vor der Theke stehend. Im Hintergrund Liebespaar an einem
Tisch, an einem anderen zwei ältere Paare.
Die Fremde schaut den Bildern mit sichtlichem Unbehagen zu. Der freundliche Kellner
stellt ihr ein Glas Schnaps hin, das sie bestellt hatte. Sie braucht das jetzt, trinkt einen
Schluck, verzieht das Gesicht, atmet auf. (Evtl. Kurze Werbeeinschaltung?) Kurz hält sie
inne, blickt sich im Café um: Sonnenstrahlen strömen durch die hohe Glasfront herein…
ein dickes Strahlenbündel fällt auf einen Tisch, an dem ein turtelndes Liebespaar sitzt, er
hält ihre Hand, sie hält seine Hand… ein anderes Lichtbündel fällt an einen Tisch, an dem
zwei alte Paare sitzen und auf einmal lauthals au achen, sich dann zuprosten und wie in
heiliger Mission an ihren Sektgläsern nippen…
Die Fremde stutzt. Sie ist die einzige, die an den News im TV interessiert ist… Dann wen-
det sie sich wieder gebannt der Mattscheibe zu.
Schnitt. Closer auf Fernseher.
Werbung zu Ende, wieder neueste Meldungen.
Der freundliche Kellner greift wie aus Langeweile nach der Fernbedienung und stellt die
Lautstärke ein bißchen lauter ein. Gerade Berichterstattung aus dem mächtigsten Land
der Welt, der Präsident und seine Berater springen salopp die Treppen zwischen weißen
Säulen hinauf, winkten lachend den Reportern zu und winken in Siegerlaune… Im Vor-
dergrund ein berichterstattender Reporter, der die Gründe aufzählt, die die eiserne Uner-
bittlichkeit des Präsidenten rechtfertigen sollen, mit Kriegsgewalt gegen das Land mit
dem bösen Diktator vorzugehen…
Schnitt. Close-up auf Fremde.
Die Fremde folgt erschüttert dem Bericht, ihre Züge härten sich deutlich, während sie ei-
nen leisen tiefen Summton von sich gibt, wie in Trance, und ihr Blick in weite Ferne
zielt…
Schnitt. Close-up auf Fernseher.
Während der Kommentator im Vordergrund von journalistischen Lustgefühlen völlig be-
rauscht den bevorstehenden Krieg in intellektuelle Partikel zerlegt, geschehen auf dem
Bild schon ganz andere Dinge: Der Präsident stolpert, fällt hin, krümmt sich als habe er
Schmerzen… die bestürzten Berater stürzen sich über ihn, wollen ihn stützen, damit er
wieder auf die Beine kommt… aber der Präsident schlägt um sich, kann von den hil osen
Beratern nicht gebändigt werden, weil er sich so wild gebärdet… führt sich auf wie ein
Verrückter, wie einer, der den Verstand verloren hat…
Chaos auf dem Bildschirm. Der Kommentator scheint wohl durch ein Zeichen der Regie
informiert zu sein, blickt sich um, dann erschrocken wieder den Zusachauern zu, stam-
melt nervös… Der quadratische Ausschnitt auf die Welt präsentiert in ungeschnittener
Länge den Wahnsinn des Allermächtigsten und der gleichzeitigen Verzwei ung von
Kommentator und Bildabschalter. Irgendwie scheint gerade jetzt in der größten Peinlich-
keit der Weltgeschichte das Knöpfchen mit der Inschrift ‘OFF‘ zu klemmen. Als hätten die
Götter beschlossen, daß es die ganze Welt sehen soll, wie der mächtigste Mann des Erd-
balls durchdreht und allem Anschein nach nicht mehr bei Sinnen ist. Die Wahrheit ist von
solcher Konzentration, daß sie unerkannt bleibt und der Eindruck entsteht, sogar man
selbst sei Teil eines skurrilen Films. Die Augen haben so etwas noch nie gesehen! Das Ge-
fühl hat es von Anfang an gewußt, aber die Augen haben es nie zu sehen gewagt.
Beißend, boxend, schreiend reißt sich der mächtigste Mann der Welt von seinen Beratern
los und jagt nun brüllend über die Treppen zwischen den weißen Säulen. Den Lärm, den
er dabei macht, erinnert ein wenig an Godzilla… Er geht aber nicht auf die Reporter los,
nein, ihnen tut er nichts, sondern greift mit schrecklichen Gebärden seine eigenen Berater
an, die vor lauter Bestürzung ganz gelähmt sind…
Endlich hat der Bildabschalter den richtigen Knopf gefunden. Es folgen die Lottozahlen
und der Wetterbericht, eine neue Blumensorte wird vorgestellt, dann das Wort zum Sonn-
tag, obwohl doch Montag ist…
Schnitt. Close-up auf die Fremde.
Die Fremde kommt aus ihrer Trance zurück, trinkt den Schnaps leer. Ihr Gesicht hellt sich
auf.
Perspektive weitet sich.
Inzwischen sind auch die anderen Gäste auf die Sensation aufmerksam geworden. Immer
mehr Gäste kommen herein, Verwirrung, Freude…
Die Fremde bestellt eine Flasche Champagner, was man nur von weitem sieht, setzt sich
dann an den letzten freien Tisch…
Schnitt. Die Fremde im Pro l im Vordergrund am Tisch sitzend, im Hintergrund der
Fernseher über der Theke.
Endlich Nachrichten:
Der Präsident habe einen Zusammenbruch erlitten… bestätigen die Ärzte… er sei nun in
der Klinik und werde ärztlich betreut…
Fremde (abfällig, leise zu sich selbst): »Klinik! …würde es sich um einen Penner hal-
ten, würden sie ‘Klappsmühle‘ sagen…«
Der Nachrichtensprecher hält kurz inne, dann: »Soeben wurde gemeldet, daß auch der
Diktator einen Zusammenbruch erlitten hat…«
Der Ton der des Fernsehers tritt langsam in den Hintergrund. Die Geräusche des
Cafés werden deutlicher, so als ob Leben zurückkehrt.
Das Café füllt sich, kein Platz ist mehr frei. Im Hintergrund auf der Mattscheibe gehen die
Sondermeldungen weiter, ununterbrochen Berichterstattungen, Sondersendungen über
die sensationellen Ereignisse…
Die Fremde wendet ihren Blick vom Fernseher ab und dreht sich zur Kamera hin: sie
blickt in Gedanken versunken aus dem Fenster.
Ein älterer Herr (Fred?) kommt herein, nähert sich dem Tisch der Fremden, wo ein letzter
Stuhl frei ist, fragt freundlich:
Älterer Herr: »Entschuldigen Sie die Störung, darf ich mich an ihren Tisch setzen?«
Die Fremde nickt freundlich. Der ältere Herr blickt sich verwundert um, wirft auch einen
kurzen Blick zur Mattscheibe. Der Kellner bringt den Champagner im silbernen Eiskübel
mit zwei Gläsern, schenkt den beiden ein. Der ältere Herr nimmt das völlig perplex ent-
gegen.
Älterer Herr: »Gibt es einen besonderen Anlaß?«
Fremde (lachend): »Oh, gewiß! Trinken wir auf die Wahrheit!«
Älterer Herr: »Das ist ein besonderer Anlaß! …Also, auf die Wahrheit!«
Fremde (lächelnd): »Auf die Wahrheit!«
In diesem Moment stoßen die zwei Gläser zusammen.
Ihre Tränen im Gesicht sind jetzt getrocknet, es kommen neue hinzu, ganz anderer Art,
nämlich solche, die das Lachen macht.
(Kurz lm-Skript. - 6.8.2003)
Comments