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NiemandLand Brandloch Publikation

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 25. März
  • 33 Min. Lesezeit

Erwachen im Niemand-Land!


»Meine Heimat … krank … Trauma alter Zeit … Scheiterhaufen für Men-

schen und Bücher … Gegenwart … Verbindung … jeder gezeichnet … Ver-

gangenheit eingebrannt … Erinnerungen tiefgefroren … Spuren … Genera-

tionen … bis zu Kindeskindern … ich? … Kind der Gegenwart … ahnungslos

… hat das mit mir zu tun? … Krankheit von Niemand-Land!«

Wo beginnen?

16. März 2004, früher Abend, die Bibliothek im Literaturhaus in München.

Ein Halbrund aus aufgestellten langen Tischen und etwa 20 Menschen jeden

Alters – Frauen und Männer, sich teils bekannt, teils nicht. Ein gemeinsames

Anliegen hatte sie hierher geführt: Die Vereinsgründung ‘Aktion Patenschaf-

ten für verbrannte Bücher‘. Um Georg P. Salzmanns Privatsammlung zu ret-

ten, über 10000 Bücher von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, deren

Werke ab 1933 von den Nazis verboten und verbrannt worden waren.

Eine Rettungsaktion also. Für Rettungsaktionen bin ich grundsätzlich zu

haben. Aber Drittes Reich? Was aus dieser trostlosen Zeit in meine herüber

weht, versetzte mich grundsätzlich in Abwehr. Impulsiv erlag ich diesem ne-

bulösen Unbehagen, das augenblicklich den routinierten Gedanken ‘geht

mich nichts an!‘ lichtgeschwindigkeitsartig auslöste und meine Flucht ermög-

lichte. Wem ist es nicht schon so ergangen? Und da saß ich nun im Literatur-

haus und dachte: Welche Macht hat mich eigentlich hierher gebracht? Ich in

einem Verein?! Ausgelacht hätte ich jeden – einem Verein beitreten! Als

Gründungsmitglied? Verbrannte Bücher der Nazizeit retten? Damit hatte ich

nun wirklich nichts zu schaffen, kam ja erst zehn Jahre nach dem Ende des

Schreckens in diese Welt.

Wo beginnen? Die Einladung kam per E-mail. Mein erster Impuls: Klick

und weg! Doch mein Finger tat nichts. Ist das der Anfang, dieser magische

Moment des Erwachens? Zögern und keine Flucht. Stattdessen der Gedan-

ke, eine Freundin zu fragen, ob sie mitginge. Noch im vorletzten Kriegsjahr

geboren war sie näher dran, zudem Kind von Eltern, die wegen Aktivitäten im


Widerstand Haftstrafen verbüßten. Sie hatte einen triftigen Grund, weil per-

sönlich betroffen, sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Wenn

sie mitginge, so überlegte ich, dann würde ich auch hingehen. Eine Bedin-

gung, die ich dem Schicksal stellte, wohl um es zu prüfen.

Wo beginnen? Irgendwo liegt der Punkt der Entstehung einer Handlung.

Irgendwo also auch der Moment, der diesen neuen Zweig austrieb, um dann

als Brandloch-Projekt seine Knospen zu entfalten. Dran bleiben und nicht

aufhören zu fragen: Welche Macht hat meinen Finger angehalten und verhin-

dert, die Löschtaste zu drücken?

Das Dritte Reich barg nichts außer Schaudern. Die Vergangenheit interes-

sierte mich ausschließlich in geografischer Ferne bei alten Völkern, die ich in

jungen Jahren suchte, wie schon in Kindertagen ersehnt – Mahatma Gandhi

und Albert Schweitzer hingen über meinem Bett und bewachten meine Näch-

te. So manche Vernunft wird einem auf ausgedehnten Reisen ausgetrieben,

denn dort kann man ihnen nicht ausweichen, den Ahnengeistern und umher

wandernden Seelen, die Unruhe stiften oder den Lebenden in Träume und

Trancezustände hinein flüstern, sei es, vor einem Unheil zu warnen, sei es,

dem Empfänger einen Rat zu geben, sei es, auf noch zu erledigende Dinge

hinzuweisen. Monatelang fremdartigem Sehen und Denken ausgesetzt, das

verändert langsam und leise das eigene Sehen und Denken. Und Erfahrun-

gen, dass es noch Anderes gibt, als wie man meinte, dass Trennung von in-

nen und außen, von oben und unten, von gestern und heute lediglich eine

beschränkte Wahrnehmung ist, zwingen regelrecht, neu zu schauen. Folglich

Verwirrung und Staunen bei jeder Rückkehr nach Deutschland, wo mich ein

wachsendes Fremdsein in der Heimat verunsicherte.

Wo beginnen? Wann regte sich der erste Keim, den neuen Ast zu bilden?

Die Freundin sagte sofort zu. Mich zu drücken, war also nicht mehr möglich.

Wohl beabsichtigte das Schicksal, dieses lang gescheute Thema in meine

Nähe zu schieben. Ohne sie wäre ich jedenfalls nicht hingegangen.

Ein lauer Abend, obwohl erst März, als ich nach dem Afrobrazil-Tanzunter-

richt mit dem Fahrrad von Schwabing Richtung Innenstadt fuhr, lebenspralle

Rhythmen noch im Ohr, auch dann, als ich mich im Literaturhaus wieder fand

und perplex in die illustre Runde blickte. In einem bizarren Empfinden verlo-

ren fühlte ich mich wie vom Schicksal in ein Boot gesetzt ohne zu verraten,


wohin die Reise ging und wozu. Mir selbst fremd betrachtete ich von außen

diese Szene und geriet sprachlos staunend ins Zweifeln, ob ich träumte oder

dieser Raum real war. Mir schräg gegenüber Georg P. Salzmann, ein Mann

Mitte siebzig, groß und kräftig in einer abgetragenen, dunkelbraunen Leder-

jacke. In seinem Gesicht und in der Art, wie er sprach, so gar nichts, was

mich an Intellektuellen oft befremdete – seine Natürlichkeit verblüffte mich.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass er weder Literatur noch Ge-

schichte studiert hatte, sondern Geschäftsmann gewesen war, und dass sei-

ne eigene Familiengeschichte zu dieser Bücherleidenschaft geführt hatte.

Wolfram Kastner, den ich einmal in seinem Atelier kennengelernt hatte und

dessen Ungehorsam mir imponierte, moderierte im Wechsel mit Kathleen

Wagner, eine junge sportliche Frau von knapp dreißig. Selbstbewusst schil-

derte sie, wie sie zwei Jahre zuvor im Internet rein zufällig auf Salzmanns

Büchersammlung gestoßen war, daraufhin zu recherchieren begann, mit

Wolfram Kastner und einigen anderen Interessierten Kontakt aufnahm, und

schließlich befand: Da muss etwas getan werden! Sie war die Initiatorin der

Vereinsgründung. Was mich an ihr verblüffte, war ihre Tätigkeit in der Auto-

mobilbranche. Beruflich hatte sie also ebenso wenig mit Literatur zu tun wie

der Geschäftsmann Georg P. Salzmann, der bereits in den sechziger Jahren

mit dem Büchersammeln anfing. Ihre Leidenschaft waren Bücher, auch mei-

ne – und ich schrieb, hatte derzeit gerade zwei Bücher veröffentlicht. Doch

die zählten hier nicht, handelten sie bloß von meinen Erlebnissen in Indien.

Wie viele jener fernöstlichen Erfahrungen dann Jahre später in ein deutsches

Projekt einfließen würden, verriet mir nicht die wildeste Fantasie.

Wo beginnen? 16.März 2004 im Literaturhaus – was hatte ich hier zu su-

chen, ich, die kaum wusste, wovon die Leute redeten? Vielleicht war es die

Abenteuerlust, mich auf Neues einzulassen, vielleicht diese verschwiegene

Macht, mich zu diesem deutschen Thema hinzuführen – wie viel freier Wille

war hier überhaupt beteiligt gewesen? Lange danach erst fing ich an, so zu

fragen. Hätte sich die Runde aus Professoren und Doktoren zusammen ge-

setzt, wäre ich vielleicht gleich wieder aus dem Boot gesprungen und zurück

ans altbekannte Ufer geschwommen. Die bunte Mischung der Gruppe war

mir sympathisch, und wäre die Freundin nicht mitgegangen, wäre ich an je-

nem Märzabend nicht im Literaturhaus gewesen.


»Man muss doch kein Literaturprofessor sein, um sich für vergessene Bü-

cher zu engagieren!« sagte Kathleen Wagner. Ob es dieser Satz war? Über

mich selbst verwundert schloss ich mich ohne Zögern an, auch später noch

regelmäßig staunend über den Entschluss – woher dieser Impuls kam?

Eine Anhäufung von Zufällen weckte mich auf, um dann wie von ferner

Hand meine Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken: Deutschland und

seine vergessenen Ahnen. Mir fiel zu, ich fing auf, das Warum entpuppt sich

nur zaghaft. Neugier schob mich in Bewegung, trieb mich seit Kindertagen

schon in verborgene Zonen. Von Jugend an hungrig auf Abenteuer und Rei-

sen lockten Anfänge und Ursprünge, die Welt wollte ich sehen und ihre alten

Völker. Je weiter von Deutschland weg desto freier jubilierte das Empfinden –

unbeschwert fühlte ich mich. Früher hatte ich so geredet, ohne zu stutzen.

Ich war ohne Heimat. Doch irgendwann längst nach überschrittener Lebens-

mitte plötzlich dieses inwendige Rumoren, Stimmen, die mir mit ihren Lauten

Emotionen einhauchten: Schau, im Dritten Reich haben deine Vorfahren ge-

lebt, von ihnen stammst du ab! Dann vor mir eine Kette von Verbindungen

und fast ein Vorwurf: Nichts hast du geahnt. Ahnungslos bist du, ja, ohne Ah-

nen. Hab sie sonst wo gesucht, gedacht, ich hätte keine und bräuchte sie

nicht. Der Kopf weiß wenig, was hinter den sichtbaren Formen wirkt. Im Pass

steht, dass ich eine Deutsche bin, gefühlt war davon nichts.

Wo beginnen? 2004 plus neun Jahre ist heute: 2013. Bald also das

7.BrandlochFest. Wieder wächst es ein Stück, diesmal mit einer Kunstaus-

stellung und mit dieser Publikation. Doch im neunten Brandloch-Jahr sieht es

erstmals so aus, als befände man das Projekt nicht förderungswürdig. We-

nigstens als Geste! Denn wir haben einen Jahrestag: 80 Jahre nach 1933!

Neun Jahre Lesen, Recherchieren, unzählige Treffen und Proben für zahl-

reiche Veranstaltungen – 75! Ich habe nachgezählt, hat mich einige Stunden

gekostet. Am Anfang dieser langen Reise musste ich mich in ein völlig frem-

des Thema einarbeiten. So wie man vor jeder Reise in ein neues Land einen

Reiseführer studiert, las ich nun verbrannte Bücher und die Biografien ihrer

Verfasser. Mit Überwindung hatte ich nicht zu kämpfen, das Interesse war

geweckt und die Neugier führte das Kommando, zu kämpfen hatte ich mit der

unsäglichen Trauer über manch einer Biografie. Für den Mut zu Standvermö-

gen, selber zu denken und aufzubegehren, zahlten jene fast vergessenen


Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit ihrem Leben oder starben aus dem

Land vertrieben irgendwo im Exil des Hungers oder fristeten dort im besten

Fall ein einsames, notdürftiges Dasein. Nachträgliche Orden fielen spärlich

aus, jedenfalls kaum solche, die groß genug auch von allen Deutschen gese-

hen worden wären, und die meisten, wie Salzmann sagte, wurden vergessen.

Armin T. Wegner lebte bis zu seinem Lebensende in Rom, seine Frau ver-

diente das Geld, und er bis kurz vor seinem Tod in hohem Alter unfähig, das

Schreiben wieder aufzunehmen, saß tatenlos tagaus tagein am Schreibtisch

und wartete auf den erlösenden Moment, die Gedanken mögen die Hand in

Bewegung setzen. Lähmende Hoffnungslosigkeit hielt ihn in unüberwindbarer

Starre gefangen. Was alles hatte er in früheren Jahren unternommen, auch

schon im Ersten Weltkrieg, die Menschen und die Regierenden wachzurüt-

teln. Der Lohn? Gefangenenlager und Folter und dann Vergessen. Oder Ma-

ria Leitner oder Jo Mihaly oder Erich Mühsam oder Hermynia Zur Mühlen …

Sie hatte bereits früh den wachsenden Nationalsozialismus kritisiert. 1932

wurde sie von ihrem Verleger gedrängt, ihre öffentlichen Äußerungen zu kor-

rigieren, ebenso ihre Mitarbeit an den Emigrantenblättern einzustellen, falls

sie in Deutschland weiterhin veröffentlichen wolle – wie Thomas Mann, René

Schickele, Alfred Döblin und Stefan Zweig. Sie weigerte sich, was schließlich

zur Kündigung ihres Vertrages führte und 1933 zur Flucht nach Wien, dann

über Bratislawa nach England, wo sie 1951 verarmt starb. Ihr Nachlass gilt

als verschollen. Irgendwo las ich, man habe nicht einmal das Grab gefunden.

Oder Salomo Friedlaender, gleich 1933 emigriert, starb in Paris, krank und

arm, obwohl sich Freunde um seine Ausreise in die USA bemühten und

Thomas Mann um Hilfe baten. »Den wollen wir hier nicht haben!« soll Tho-

mas Mann gesagt haben und half nicht.

Was ist das für eine Energie, die da in der Gesellschaft nachhaltig und

wiederholend wirkt? Wahre Helden werden ausgeblendet und später will man

sie noch immer nicht haben.

Wo beginnen? Wie von selbst knüpft sich ein weit verzweigtes Netz, wenn

ich suche, alle Stränge hängen irgendwie zusammen. Erinnern gehorcht nicht

der Chronologie, sie bricht herein mit bruchstückhafter Bedrängnis, scheinbar

zusammenhanglose Bildausschnitte wie Teile eines gigantischen Puzzles.

Vielleicht ist die Erinnerungshierarchie ein Konglomerat aus Emotionsgewich-


tung und ihrem Schutz, aus Zufall und Schicksal, aus Nebenwirkungen von

Sonnenaktivitäten und Erdmagnetfeldschwund. Und wie schwer wiegt das

Eigene? Unter fremden Völkern von Altvertrautem entwöhnt, somit dem Ver-

stand jegliche Privilegien abtrainiert, reifte ein neuer Sinn für Orientierung.

Die alte Matrix bekam Risse, und das Schutzschild zunehmend porös ließ

ganz andere Stimmen als die von Eltern und Großeltern hindurch sickern, die

mich nach ihrem Vernunftschema programmieren wollten. Ein Makel nur hier,

in meiner Familie, irrte ich lang, rebellierte und floh in die weite Welt …

Wo beginnen? September 2003 die letzte Begegnung mit Kutty Ashan,

kurz danach der Tumor in der linken Brust. Der Knoten über meinem Herzen

eine bedrohliche Erbse, darin abgekapselt ein Extrakt aus Vergangenheit.

Todesangst. Januar 2004 Kutty Ashans plötzlicher Tod. Genau zehn Jahre

zuvor hatte ich ihn und seine trancetanzende Gruppe an einem Fischerstrand

in Kerala gesehen und elektrisiert das Besondere wahrgenommen. 2001,

wenige Wochen vor dem 11.September, spürte ich ihn auf, dank glücklicher

Zufälle, wir sollten uns begegnen. Zwei Jahre blieben uns, seine Arbeit – Lie-

der, Tänze, Geschichten seiner Ahnenkultur – zu dokumentieren. Unerwartet

die Nachricht von seinem Tod. Und doch gespürt ohne ersichtlichen Grund

fünf Monate zuvor, es wäre das letzte Treffen. Danach erst langsam begrif-

fen, der alte Meister und tanzende Schamane war letzter Spross einer verba-

len Kultur in Südindien – gewesen. Seine Töchter und Schüler hatten das In-

teresse verloren, glaubten nun an andere Größen. Das gesammelte Material

floss in Buch und Dokumentarfilm, nun einzige Dokumente in Wort und Bild

dieser Ahnenkultur, die im Sterben lag – wie übrigens auch die alte Welt Indi-

ens. Zwei junge Journalisten in Kerala verfassten zur Ankündigung des Do-

kumentarfilms einen Zeitungsartikel: »Wir trampeln unsere Kultur in den Bo-

den und da kommt eine Deutsche und zeigt uns die Schätze unserer Ahnen.«

Was ist das, eine ahnenlose Deutsche sucht in Indien nach Ahnen? Um

die Erinnerung an sie zu retten! Erinnern folgt weder Chronologie noch Ver-

nunft, Erinnern kann mehr, wenn man will. Es hat Jahre gedauert und enorme

Überwindung erfordert, diese Ereignisse in Zusammenhang mit dem Projekt

Brandloch zu denken, dann zu formulieren und die Gedanken frei zu lassen,

um sie laut mitzuteilen. Ob von Kutty Ashan diese Macht herrührte, meinen

Finger anzuhalten, also nicht die Löschtaste zu drücken, ob der Schamane


aus dem Jenseits wirkte und zu mir sagte: So, und jetzt kümmere dich um die

Ahnen deiner Heimat!

Meine Ahnen … Dazu fiel mir nichts ein. Eltern, Großeltern, Urgroßeltern

brave katholische Leute, bescheiden bis arm und immer gehorsam, niemand,

der auffiel, keine Helden. Und wissen tat man nicht viel, der Krieg war

schlimm und wie gut es uns doch heute ging, Hitler, der eine Krankheit war,

die Deutschland wie aus dem Nichts befiel, eine Krankheit, die mit dem letz-

ten Kriegstag wie durch Zauberhand überstanden war dank der amerikani-

schen Befreier. Und was es dann alles Neues gab: Kaugummi, Cocacola,

Rock‘n Roll und Petticoat. Das Kind hat verwundert zugeguckt, wie enthusi-

astisch man sich auf alles Neue stürzte, wo doch solche Schätze auf Groß-

mutters Dachboden lagen. Und wer zurück blickte, dann wie auf ein Phäno-

men, für das es keine Erklärung gab, das wie ein Meteorit auf Deutschland

gestürzt war – jeder hilflos dieser Übermacht ausgeliefert.

Ahnen! Eine Ahnung davon war in Indien wahrzunehmen, in Deutschland

gab es keine. Und fern von dort in Urwäldern und Wüsten, wenn sich deut-

sche Reisende über den Weg liefen, wich man sich tunlichst aus oder kom-

munizierte in englischer Sprache. Und als haftete mir etwas Fremdes, Un-

deutsches an, hielt man mich im Ausland immer für eine Französin.

Wo beginnen? Beim März 2004 im Literaturhaus? Und dann recht konfus

beobachtend, wie sogleich nach der Vereinsgründung meine Gedanken an-

fingen, um das Thema zu kreisen, wie ich ohne zu zögern Jürgen Heckels

Einladung zum ersten Arbeitskreis in der Gemeindebücherei Garching folgte

– da waren‘s nur noch neun. Mit von der Partie Wolfram Kastner, Kathleen

Wagner, ihr Freund, meine Freundin, ich und ein paar andere. Es war Oster-

zeit und Jürgen Heckel hatte neun bunte Eier in einem Körbchen in unsere

Mitte gestellt, um das Ideenbrüten anzuregen. Wir bildeten drei Arbeitsgrup-

pen. Im Team mit Kathleen und Wolfram brütete ich den Flyer aus, schlug

neue Fotos von Salzmanns Büchern vor – die bereits vorhandenen Fotos er-

schienen mir zu lau und undramatisch, hätten mich niemals angesprochen.

Neue Perspektiven schlug ich vor, damit die Betrachter die Wucht, die Berge

der Bücher und ihre Herkunft fühlen könnten, wie sie drohten einzustürzen

und man sie retten müsse.


Ich rief Georg Salzmann an, um meinen ersten Besuch in seinem Bücher-

haus in Gräfelfing anzumelden, und fuhr dann zu ihm, ausgerüstet mit Foto-

apparat, Videokamera und wachsender Neugier. Das Erdgeschoss bewohnte

die Tochter mit Ehemann, aber Keller, Treppenhaus und erster Stock be-

wohnten die Bücher und der Sammler. »Ach, setzen Sie sich doch einfach

dahin, wo noch Platz ist!« sagte er und hatte schon Kaffee gekocht. Einge-

rahmt von Büchertürmen saßen wir uns gegenüber, redeten und rauchten, er

seine Zigarillo, ich meine selbst gedrehte Zigarette. Später fotografierte und

filmte ich die Büchertürme, Stapel und Berge von beschriebenem Papier im

übervollen Keller und fiel selbstvergessen in ein Zeitloch. Verwundert schaute

Salzmann öfter herein, musste mich erst suchen, weil ich auf allen vieren

kriechend die Wucht dieser Gedächtnissammlung einzufangen versuchte,

und meinte dann lachend: »Wollte nur nachsehen, ob Sie noch leben!«

Vielleicht hätte ich ihn nicht wieder besucht, da für die Flyer nun alles im

Kasten war, wäre beim Abschied nicht dieser Satz gewesen. »Wissen Sie, es

gibt so viele Autoren, die sind heute einfach vergessen.« – und in seinen Au-

gen eine drohende Überschwemmung. Auf der Heimfahrt dann lauter Namen,

die durch meinen Kopf schwirrten, Namen, die bis auf wenige Ausnahmen

Fremdwörter für mich waren. Zuerst Unbehagen, nichts zu wissen, dann das

Unbehagen hinter diesem Kapitel der deutschen Geschichte, das meinem

Gewissen wiederum die Berechtigung einflößte, das Wissenwollen – aus gu-

tem Grund – immer verweigert zu haben.

Wo beginnen? Salzmanns Worte, die mich bannten – Vergessenes, Verlo-

renes retten! Die Retterin, die aufhorchte und die Begeisterung der Kindheit

wach rief, als das Verlangen, Altes zu entdecken, mich Ferienzeiten lang auf

Großmutters doppelbödigen Speicher lockte, wo neben Mais, Getreide und

Walnüssen zum Trocknen in Großmutters Strümpfen aufgehängt eine ver-

schmähte Vergangenheit abgestellt war. Und das Kind von allen unverstan-

den schleppte diese verstaubten Dinge, die man nicht mehr haben wollte,

wieder hinunter und ins Leben zurück.

Vergessenes, Verlorenes – Altes wieder entdecken! Wie Köder fingen sie

mich ein, Salzmanns Worte jedes Mal, wenn ich ihn besuchte. Frisch gebrüh-

ter Kaffee stand bereit, und je nach Wetter saßen wir kaffeetrinkend und rau-

chend entweder auf dem Balkon oder in der Küche oder im Wohnzimmer –


um uns herum die Büchertürme wie stumme Zeugen einer vergangenen und

doch nicht vergessenen Zeit. Dann erzählte er und zog keine Trennung zwi-

schen der großen und seiner persönliche Geschichte. Ich hörte zu mit vielen

Fragen. Was war der Auslöser gewesen, sich für die verbrannten Bücher zu

interessieren? Wie fängt so eine Leidenschaft an? 1945 als junger Soldat,

fast noch ein Kind, ist er ein Nazi wie Vater und Großvater. Dann das Famili-

endrama zum Ende des Krieges: Aus Enttäuschung über den Ausgang

schoss sich der Vater eine Kugel in den Kopf. Das hat ihn verwirrt und wach-

gerüttelt, aber ganz langsam. In den sechziger Jahren, längst erfolgreicher

Geschäftsmann, machte ihn der Zufall mit einem Lesezirkel bekannt. Er be-

gann die Bücher zu lesen, die 1933 in den Flammen verschwanden, und bald

die verschollenen und verschmähten Werke aus aller Welt wieder heimzutra-

gen nach Deutschland.

Und jedes Mal beim Abschied seine Worte aus schwimmenden Augen, wie

um auch mich mit dieser Trauer anzustecken und wachzurütteln: »Es gibt so

viele Autoren, deren Namen sind einfach vergessen!«

Verbarg sich hier ein vergessener Schatz? Es war dieser Satz, der den

Funken zündete, der mir das Brandloch sichtbar machte, Salzmann, der ganz

unbeabsichtigt das Stichwort gab. Und schon hatten mich die Gedankenstru-

del, über dem Konzept einer Lesereihe zu brüten, die sich den Vergessenen

widmet, nicht den berühmten. Also Aufbruch zum Abenteuer, Altes neu ent-

decken! Retterin und Entdeckerin mobilisierten sich, dieses unbekannte Ge-

biet zu erkunden: Die eigene Heimat. Was für ein Wort! Heimat. Es ging

schwer über die Lippen. Doch in mir meldete sich nun vehement die Schrift-

stellerin: Dazu will ich etwas sagen, ich lebe heute! Ich muss doch auch eine

Heimat haben! Hier begannen die Ideen sich allmählich zu entpuppen und in

ersten Entwürfen zu üben. Die Vergessenen aufspüren und kennenlernen,

mit ihnen den Dialog suchen, das Brandloch wahrnehmen, das die Vergan-

genheit uns schweigend hinterlassen hat! Wir Autoren von heute korrespon-

dieren mit vergessenen Kollegen von gestern …

So und ähnlich lauteten die ersten Worte, das Vorhaben zu beschreiben.

Ich hatte einige KollegenInnen für diese Lesereihe begeistern können und so

machte Brandloch als Arbeitskreis des Verbands deutscher Schriftsteller sei-

nen Anfang. Bis zur ersten Veranstaltung am 2.Juni 2005 in der Seidlvilla in


München jedoch verstrich fast ein Jahr mit zahlreichen aufgeregten Treffen.

Dieses Eigene, das zum Vorschein kam und mit der Vergangenheit in Verbin-

dung trat, die Möglichkeit, sich selbst mit eigenen Gedanken und Texten ein-

zubringen, um durch diesen Versuch des Dialogs die fast vergessenen Den-

ker und Kritiker des Nationalsozialismus lebendig in unsere Mitte zu holen,

war für alle etwas völlig neues. Unsere virtuellen Gäste beim 1.Brandloch in

der Seidlvilla München waren Elisabeth Castonier, Salomo Friedlaender, Ma-

scha Kaleko, Irmgard Keun und Else Lasker-Schüler, einige Texte betanzt

von einer Tänzerin. Kathleen Wagner war gekommen und Georg P. Salz-

mann, der eine kleine Ansprache hielt. Danach noch langes Beisammensit-

zen und Reden.

Wo beginnen – gibt es überhaupt einen Anfang? Oder eben keinen, weil

ich mit all meinen Taten und Nichttaten, Gedanken und Emotionen das Glied

einer langen Kette bin, einer Kette, die durch ein schwarzes Loch führt, das

sich dem Gedächtnis verweigert. Ein scharfer Schnitt unterbricht den Fluss

zu den Vorfahren. Denn dieses schwarze Loch ist Exil von Massen ungese-

hener Emotionen, die noch immer umher geistern und sich nicht begraben

lassen, die so lange keine Ruhe geben, bis sie gesehen werden, so lange

also Wege finden, ans Licht zu gelangen. Die Ahnenbeschwörer im alten In-

dien wussten allzu gut von solchen Mächten, die heute von der modernen

Wissenschaft gerade wieder entdeckt werden: Die DNS ist das Archiv aller

Erfahrungen und Emotionen der Vorfahren.

Welche höhere Instanz mich anschob, ins Literaturhaus zu gehen und

dann so eifrig mitzutun, erklärt mir nicht der Verstand. Was aus meiner Ah-

nenreihe wirkte, kann mir heute niemand mehr sagen. Noch leben meine El-

tern, aber alles Unangenehme ihres Lebens und ihrer Vorfahren haben sie

aus ihrem Erinnerungsprotokoll gestrichen. Und was kann mir meine eigene

kleine Biografie verraten? Hitler, Nazis und verbrannte Bücher haben mich

nie interessiert – was hatte das mit mir zu tun? Altmodische Menschen wie

Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten stellte ich in jene Zeit – was hätten die

mir schon erzählen können? Engstirne und ihre Dogmen, dieses katholische

Grausam mir als Liebe verkauft! Und außerdem: Das ist doch so lange her!

Und heute ist heute, immer nach vorne denken!


Wo beginnen? In jungen Jahren floh ich vor Mutter und Vater, vor meiner

Herkunft, vor diesem schrecklichen Deutschland, Jahre lang um den Globus

reisend, in der Fremde lebhaft bewundert und beneidet für mein reiches, tol-

les Land. Doch ich, gerade von dort entfliehend, unfähig die Gefahr zu nen-

nen, suchte, wie um mich zu verstecken, nach den entlegensten Winkeln der

Erde, wo keine anderen Reisenden und bloß keine Deutschen anzutreffen

waren, wo die Einheimischen noch im Verbund mit ihren Ahnen und Geistern

ihr Dasein teilten und dementsprechend gestalteten. Dort zur Wurzel der

Menschheit fühlte ich mich hingezogen, denn an der Wurzel ist noch alles

möglich in Richtung Zukunft, dort ist die Hoffnung noch ein fröhliches Kind.

Meine Heimat ist krank! Deutschland ist krank – schon lange und will es

nicht merken. Nicht erst vor 80 Jahren, als hier die schrecklichen Dinge ihren

Lauf nahmen, hat es mit dieser Krankheit angefangen, das Trauma hat viel

früher seinen Ursprung. Scheiterhaufen für Menschen und Bücher liegen

bloß schon so weit zurück, dass man sich heute damit nicht mehr in Verbin-

dung bringt. Trotzdem ist jeder gezeichnet davon, denn die Vergangenheit

hat sich jedem einverleibt, irgendwie haben sich die Erinnerungspuren in den

Kindern und Kindeskindern fortgepflanzt …

Und keiner hat es gemerkt? Keiner konnte es merken – keiner durfte. Und

ich? Zuerst nicht einmal gewahr, dass überhaupt ein Trauma existierte, dach-

te jung und ahnungslos: Was hat das mit mir zu tun? Bin ja erst zehn Jahre

nach dem Schrecken geboren. Dachte, was geht es mich an? Soll ich mich

etwa schuldig fühlen, weil meine Eltern in jener Zeit aufgewachsen sind?

Selbst sie noch Kinder, und die Hitlerjugend fanden ja alle ganz gut. Da war

doch jeder dabei, man hat Lieder gesungen und Ausflüge unternommen, das

war schön. Es war halt üblich – normal. Keiner hat sich da Gedanken ge-

macht. Nein, erzählt wurde wenig, höchstens um die Kinder zu schelten, wie

gut sie es doch heute hätten, wie undankbar sie seien, auf wie viele Dinge

die Eltern und Großeltern hätten verzichten müssen dann später während

des Krieges. Und wenn doch jemand etwas preisgab, auf keinen Fall so, wie

ich zufrieden gewesen wäre. Wie oft befragte das Kind den Vater über seine

Zeit als Soldat und in Kriegsgefangenschaft, ob er jemals jemanden tot ge-

schossen hätte. Darauf stets die gleiche Antwort, er habe absichtlich immer

daneben gezielt. Und in seiner Mimik fast so etwas wie ein Grinsen, als sei


das völlig selbstverständlich für einen Soldaten mit christlicher Gesinnung,

als stelle das Kind nur dumme Fragen. Irgendwann gab ich das Fragen auf –

wie andere Kinder auch. Manch alte Väter haben im hohen Alter dann doch

angefangen zu reden, ihre Erinnerung ist nie tot gewesen. Sie hätten das

noch nie jemandem erzählt, sagen sie unter Tränen in einem Dokumentar-

film. Ich stellte mir vor, einer von ihnen wäre mein Vater. Vermutlich wird nie-

mand erfahren, was ihm widerfuhr. Ebenso wenig, ob er seine Erinnerung so

erfolgreich dem schwarzen Loch übergeben oder dem Schweigen so gut

standgehalten hat – bis heute, bald siebenundachtzig Jahre alt. Um dieses

Talent hatte ich ihn schon manchmal beneidet, heute nicht mehr. Ich bin eine

Nichtvergesserin – und das kann ich gut!

Nicht viel, was er seinen Kindern erlaubt zu wissen. Ende des 2.Weltkriegs

ein halb verhungerter achtzehnjähriger Soldat im russischen Gefangenenla-

ger sechs Monate lang. Ach ja, Wanzen hätte es da gegeben! Damit sie nicht

ins Bett krabbelten, hätten sie die Bettfüße in kleine Wassertöpfe gestellt.

Das ist alles, was ich erfahre aus einem amüsierten Gesicht, Vaters Gesicht,

meist nur von Strenge gezeichnet. Und später in Asien und Afrika mache ich

es genauso wie er, wenn Wanzen im Bett mir den Schlaf rauben, und denke

an Vater in seiner Kriegsgefangenschaft. Als er dann abgemagert zu Hause

vor der Tür stand, hat ihn die eigene Mutter nicht erkannt. Das sind die Fak-

ten, die Emotionen dazu brauche ich mir nicht vorzustellen, denn er hat sie

mir und meinen Geschwistern durch das Archiv seiner Gene weitergegeben,

und diese wieder an ihre Kinder, ich habe keine.

Es braucht Mut, sich zu erinnern, Mut zum Weichen, schutzlos und doch

vertrauensvoll in die verborgenen Bildern zu fallen. Vielleicht gerade dieses

Erinnerungswagnis eine hohe Kunst, sich an die große Kraft anzubinden und

aus kollektiven Dimensionen zu schöpfen …

Armer Vater. So viel Gewalt – wie da noch lieben? Armer Vater. Die päd-

agogischen Grausamkeiten in der Kindheit durch die Hand des eigenen Va-

ters und dann als Jüngling weiter traumatisiert im Krieg inklusive Kriegsge-

fangenschaft. Was hast du durchgemacht und es niemandem erzählen kön-

nen. Lediglich ein Granatsplitter am Ringfinger zeugt als sichtbare Verwun-

dung vom Krieg, ein Granatsplitter, der dann als Argument diente, warum

eine Laufbahn als Geiger nicht mehr möglich war. Angesichts der allgemei-


nen Tragik hatte so einer keinen Grund, seine Traumen zu beweinen, andere

haben Arme und Beine verloren oder ihr Leben. Tatsächlich waren am Ende

des Krieges lauter Opfer in Trümmern übrig geblieben und nichts von dem

Ruhm, dem man sich vor dem Krieg in euphorischen Fantasien hingab. Nie-

manden traf ich, der mit den Ursachen etwas zu tun hatte – niemanden! We-

der Großeltern noch Eltern noch Tanten noch Onkel. Ich begegnete aus-

schließlich armen, unschuldigen Opfern. Möglich, dass sich keiner aus mei-

ner Sippe unter den Bösen befand, denn alle waren arm – bekanntlich hatten

die Bösen ja ganz schön abgesahnt. Noch in meiner Kindheit wurde ständig

jeder Pfennig umgedreht, andere hatten viel mehr.

Durch die Arbeit am Brandloch-Projekt begann ich, noch einmal und nun

ganz anders zu fragen. Sozialdemokraten seien sie gewesen, erfuhr ich von

Mutter. Weil die Familie ihr verboten hatte, zur Hitlerjugend zu gehen, musste

sie mit wenigen anderen samstags in die Schule und einen Aufsatz schreiben

– zum Verdruss des Lehrers, weil der seinen kostbaren Samstag opfern

musste, um die Kinder der Widerständler zu beaufsichtigen.

Und ich untersuchte die väterliche Linie, dort der behinderte Großvater,

auch ein Sozialdemokrat. Anfang der Dreißigerjahre hat ihn im wahrsten Sin-

ne des Wortes der Schlag getroffen, seitdem war seine ganze rechte Körper-

hälfte gelähmt – soll heißen, die Verstandesseite hat einen Schock erlitten

und sich dann ausgeschaltet?

Die Großmutter vom Kaiserstuhl hatte mir in meiner Jugend erzählt, wie

die Franzosen während des Krieges über den Rhein kamen und im Städt-

chen die Frauen vergewaltigten. Alle kräftigen Männer an der Front kämpfend

waren im Heimatort nur Frauen und Kinder und Alte zurück geblieben. Groß-

mutter aber war der Schmach entgangen, denn als Winzerin konnte sie die

einbrechenden Soldaten mit reichlich Wein aus dem Keller bedienen. Ihre tri-

umphierende Art des Erzählens ließ diese Geschichte in meinen sechzehn-

jährigen Ohren abenteuerlich klingen – was für eine mutige Oma ich habe!

Und als sei ich gegen Emotionen solchen Grusels gefeit, fühlte ich nichts.

Waren es lediglich meine sechzehn Jahre oder genoss ich besonderen

Schutz? Den Schutz der Verdrängung meiner Mutter. Jedenfalls musste ich

über fünfzig Jahre alt werden, musste mich Jahre lang eingehend mit jener

von Emotionen isolierten Zeit beschäftigen, bis ich von den Verbotenen ge-


weckt in deren Bücher nun Teile meiner eigenen Wurzeln entdeckte, und da

nun Großmutters Bericht in meiner Erinnerung wieder auftauchte, mich derart

fesselte, bis endlich die Idee aufkam, die eigene Mutter zu fragen. Sie, ver-

gewaltigt worden? Sie brach in ein solch merkwürdiges Gelächter aus, wie

nie zuvor von ihr gehört. Und wie so oft in der Vergangenheit schrieb sie mei-

ne Frage meiner allzu sprühenden Fantasie zu. »Die Oma hat es mir

erzählt.« – blieb ich hartnäckig, doch ihre Mauern hielten stand. Ein oder zwei

Fälle soll es gegeben haben, gab sie lapidar zur Antwort, in ihrer Stimme ein

abfälliger Ton – mich fröstelte.

Trauma! Schlafendes Trauma! Ein ganzes Land hat nichts gemerkt, hat

nichts damit zu tun, was in diesem Land geschah – Niemand! Eine ganze Na-

tion hat vergessen. Nein, nicht den Hitler, der muss als Hauptverursacher al-

ler Nöte und als Täter weiterhin herhalten. Das andere soll vergessen sein,

diese Emotionen, die den Wahnsinn bergen, der zuerst mit Mutter und Vater

verknüpft in der Tragik Drittes Reich seinen großen Ausdruck fand. Das ist

die Krankheit von Niemand-Land.

Ich habe gesehen, wie das geht. Die häusliche Gewalt – man nannte das

‘Kinder-Erziehung‘. Es hat niemanden gestört außer die Opfer selbst. Doch

wo sollten sie sich beschweren? Die kleinen Kinder mussten die Züchtigung

als etwas Gutes hinnehmen. Der Opa schlug den Vater, als er noch klein war,

während die Oma stumm litt, dann schlug der Vater, als er erwachsen war,

sein Kind, während die Mutter stumm litt – auch die Mütter Geschlagene. War

der Vater bei der Arbeit, schlug die Mutter das Kind, war die Mutter beim Ein-

kaufen, schlug das Kind das jüngere Geschwisterchen … Niemand hat pro-

testiert, niemand hat sich aufgelehnt und laut gesprochen: So geht das nicht!

Das ist ein Verbrechen! Niemand. Nicht in meiner Sippe, und nicht, so weit

ich blicken konnte, überall gingen nur Unschuldige spazieren und verhauten

zu Hause ihr Kind. Stattdessen: Das hat noch keinem geschadet!

Die Schizophrenie dämmerte mir freilich viel später. Ich, ein Kind von Un-

schuldigen? Mit Gewalt und Grausamkeit erzogen? Und mit dem Segen des

Papstes! Sonntags artig lächelnd zur Kirche spazieren und ein Mal im Monat

zum Beichten. Was beichten Unschuldige? Ich hatte unkeusche Gedanken,

mit meiner Frau aus Lust geschlafen … Herr erbarme dich unser, Amen.


Bis heute wird die Not der Kinder bagatellisiert, selbst die längst erwach-

senen Kinder machen da beflissen mit, als müsse ein Heiligtum beschützt

werden. In hohen Rängen von Niemand-Land ist man besonders raffiniert.

Die Regenten über Gelder für Kultur, Kunst und Bildung, die Bereiche näm-

lich, die eigentlich seelisch verdauen helfen, vermeiden den allzu intensiven

Blick zurück und tönen lapidar: So was brauchen wir nicht! Oder, wenn es

darum geht, vergessene Werke auszugraben, die Entdecker zu unterstützen:

Wir wollen nicht jeden haben! Solche Sätze entspringen nicht meinem Hirn,

ich bekam sie zu hören von Vertretern staatlicher Einrichtungen in München,

als ich um Förderung für das Brandloch-Projekt anklopfte. Warum will man

nicht jeden haben? Diese ‘Jeden‘ betrafen engagierte Leute wie Charlotte

Beradt, Elisabeth Castonier, Oskar Loerke, Walter Mehring, Erich Mühsam,

Max Herrmann-Neisse, Armin T. Wegner, Hermynia zur Mühlen und so viele

mehr. Auch der Veranstaltungstext behagte den Herren an den Hebeln nicht:

B r a n d l o c h – Ve r s c h o l l e n e R e b e l l e n

Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand!

Im Mai1933 fanden in ganz Deutschland Bücherverbrennungen durch das

Nazi-Regime statt. Intellektuelle erhoben ihre Stimme zum Protest und viele,

die sich nicht ins Ausland absetzten, waren im Widerstand aktiv. Ihren Mut zu

eigenständigem Denken mussten sie mit Gefängnis und Folter bezahlen – so

z.B. Armin T. Wegner, der in einem öffentlichen Brief an Hitler gegen die Ju-

denverfolgung protestierte. Ihre Namen sind heute fast vergessen, es

scheint, als hätte das Nazi-Regime mit seiner Geistes-Säuberung gesiegt.

Brandloch-Autoren/Innen nehmen die Spuren auf, die die Zeit zugeweht

hat, und lassen einige Rebellen wieder zu Wort kommen …

Was beherrscht da noch unsere Gesellschaft, dass die Vertriebenen von

einst auch heute nicht zurück dürfen. Jetzt beim Schreiben kracht mir die

Verwandtschaft vor die Augen: Jeden – Juden! Was will sich hier verstecken?

Man habe durchaus schon Veranstaltungen dieser Art unterstützt, z.B. ei-

nen Theaterabend über Gertrud Kolmar, hörte ich wie zur Rechtfertigung von

jener Stelle, wo man nicht jeden haben wollte. Doch mittlerweile wusste ich

genug, um zu verstehen. Die Dichterin, der wir im Jahr zuvor 2005 in der

Seidlvilla eine Veranstaltung gewidmet hatten, war der klassische Fall, den

man anscheinend – und nur den – haben wollte. Sie war Jüdin, ihre literari-


schen Werke blieben zu Lebzeiten weitgehend ungedruckt, politisch war sie

nie aktiv gewesen und Anfang 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo

sie umkam. Das genaue Todesdatum ist unbekannt.

Bevor ich mich in das Thema Drittes Reich vertiefte, war mir in der An-

nahme, die Religionsfrage sei in der Gegenwart für alle Zeit aus Deutschland

geschafft, entgangen, welcher Graben noch heute zwischen diesen zwei

Glaubensrichtungen klafft, das Chaos unverarbeiteter Qualen.

Bereits unser 3.Brandloch über Bruno Schulz im Herbst 2005 in der

Seidlvilla München führte mir hautnah vor, welche Schwierigkeiten noch im-

mer den Verstand vergiften. Eine Kollegin des Schriftstellerverbands war an

jenem Abend als Zuschauerin gekommen, um sich von der Form der Veran-

staltung ein Bild zu machen, für den Februar 2006 plante sie, gemeinsam mit

einem Kollegen einen Abend in der Reihe Brandloch zu gestalten. Wie zur

Tradition geworden saßen wir nach der Veranstaltung auf ein Gläschen in ei-

nem der nahe gelegenen Kneipen zusammen, wie stets begleitet von rede-

hungrigen Zuschauern. Der Tatsache, dass jene Kollegin Jüdin war, maß ich

kaum Bedeutung zu. Ich begrüßte diesen Zuwachs, denn der noch kleine

Kreis des Projekts setzte sich bislang lediglich aus Christen und Religionslo-

sen zusammen. Während kühlem Bier und Wein am langen Tisch mit zehn

Menschen, die sich über das eben Gehörte austauschen wollten, erhitzte sich

jene jüdische Kollegin am anderen Ende mit erschreckendem Tempo, bis sie,

nachdem sie alle Anwesenden beschimpft und beschuldigt und in ihren Gra-

ben gerissen hatte, wutentbrannt das Lokal verließ, sich wohl zu Hause

gleich an den Computer setzte, um einen Schmähbrief an mich zu schreiben

und ein Pamphlet ins Internet zu stellen, um das Brandloch-Projekt und mich

als Zielscheibe ihrer Wut zu nutzen. Was hatte ich getan? Und was war ihr

Vorwurf gewesen? Wir, also die Mitwirkenden der Reihe Brandloch, würden

den jüdischen AutorenInnen nicht genügend Aufmerksamkeit schenken! Auch

den nicht anwesenden Salzmann verurteilte sie deswegen scharf, so laut,

dass ich mich gezwungen sah, mich einzuschalten und zu erklären, was dem

Brandloch-Projekt wichtig ist. Wir wollen nämlich alle haben! Der Neugier

freien Lauf lassen und solchen Spuren folgen, die in uns Resonanzen erzeu-

gen. Wissenschaftliche Vollständigkeit überließen wir den Universitäten, wir


wollten auch ein bisschen Freude haben, zumindest die der Begeisterung,

die unser Interesse nährte.

Die Folge jenes Abends waren neben endlosen Stunden Gespräche mit

KollegenInnen und Dialoge texten, dass mit jener sonst so sachlich arbeiten-

de Kollegin überhaupt nicht zu reden war, dass sie noch eine Weile mit Inter-

net-Pamphleten fortfuhr und nie wieder bei einem Schriftstellertreffen gese-

hen wurde, dass mein Mann und ich umgehend aus der Kirche austraten und

wir alle ziemlich verunsichert waren. Die Beschuldigung war schlicht unhalt-

bar, denn die exakte Bilanz der vorgestellten Schriftstellerinnen und Schrift-

steller in den bis dahin 3 Brandlöchern ergab 4.25 jüdischer und 1 christlicher

Abstammung. Es wird schnell kompliziert, fängt man an zu zählen. Zum Bei-

spiel Elisabeth Castonier war wegen ihres Großvaters eine Vierteljüdin, wur-

de jedoch christlich erzogen, war also eine Christin, die dann wegen dieses

großväterlichen Viertels im Dritten Reich als Jüdin verfolgt wurde. Oder Wal-

ter Serner in eine jüdische Familie hinein geboren konvertierte als Erwachse-

ner zum christlichen Glauben …

Sicherlich ein Einzelfall! Dachte ich, solche Ausbrüche sind halt mensch-

lich. Die Erstbeschwichtigung hielt nicht lange an und resignierte bald an der

Realität, die in regelmäßigen Abständen mit Problemen aufwartete. Kein Jahr

ist vergangen, das nicht mindestens einen Konflikt vorweisen kann, gefühlte

Detonationen jener missachteten Geister im Graben. Zumeist Kolleginnen,

die plötzlich wie verhext reagierten – vielleicht weil Frauen eher als Männer

ihre Gefühle nach außen tragen? Die Männer hielten sich zurück, für meinen

Geschmack oft leider zu sehr, als wollten sie sich in der Unsichtbarkeit ver-

kriechen. Wo war ihr männlicher Kampfgeist? Unangenehm war ihnen jede

Konfrontation, obgleich sie durchaus ihre Meinung hatten, aber sie stellten

sich nicht vor alle hin und sagten laut, was sie dachten. Dabei fanden regel-

mäßig Treffen von Mitgliedern des Verbands deutscher Schriftsteller statt, im

großen wie im kleinen Kreis. Wie hatte ich mich in diesen Leuten getäuscht.

Und mit welchem Optimismus war ich diesem Verband nach meiner ersten

Buchveröffentlichung beigetreten – als Schriftstellerin mit KollegenInnen aktiv

werden und etwas bewegen wollte ich.

Der Graben hat seine Gesandtschaft. Da wirken Kräfte und man weiß

nicht wieso, fühlt Unheimliches, weil die Rückenhaare senkrecht stehen, fühlt


verborgene Gegnerschaften Neugier und Interesse behindern, erlebt, wie sie

gar Gewalt anwenden. Heute denke ich: Wenn begriffen ist, was sich dahin-

ter verbirgt, wird ihre Macht schwinden. Davon noch weit entfernt im nassen

Herbst 2007 radelte ich mit Alexander zum Nymphenburger Friedhof, um das

Grab von Elisabeth Castonier ausfindig zu machen – mit Erfolg. Auf dem

Heimweg aber hatte ich einen Unfall. Aus mir unerklärlichem Grund drehte

sich mein Lenker um 180 Grad und ich stürzte kopfüber zu Boden. Im Kran-

kenhaus wurde eine schwer verstauchte rechte Hand diagnostiziert, das sei

noch schlimmer als ein Bruch. Die Hand sah zum Erbarmen aus und die

Schmerzen raubten mir die ersten Nächte den Schlaf. In den folgenden Wo-

chen schrieb ich mit der linken Hand – krakelige Gebilde. Die eine Macht

wollte mich am Schreiben hindern, die andere, dass ich meine rechte Ge-

hirnhälfte trainierte, indem ich die linke Hand benutzte. Das Fühlen also noch

tiefer nach innen versenken, noch hellhöriger auf die Intuitionen horchen,

damit die Komplexität dieses Themas zu begreifen lernen möglich wird.

Ideenblitze und Bilder für einen Film liefen seit dem Frühsommer 2007

durch meinen Kopf. Also beschloss ich im Herbst, kurz nach dem Fahrradun-

fall, dieses Unternehmen zu wagen. An einem sonnigen Novembersonntag

fuhren Bernhard und ich mit dem Auto durch die Münchner Innenstadt für ers-

te Filmaufnahmen. Ein Dokumentarfilm der ganz anderen Art sollte es wer-

den, denn über das Dritte Reich gab es ein reichliches Angebot. Wie wäre

das, wenn die alten Gebäude entlang der Straßen und Plätze sprechen und

wir sie verstehen würden, wenn diese Fastvergessenen gehört und gesehen

werden wollten mit den Ohren und Augen der Lebenden, wenn diese Selber-

Denker in die Gegenwart zurück kehren könnten?

Wir wollen nicht jeden haben!

Warum?

Viele konnten fliehen, mussten – und wie viele haben sich im Ausland trotz

der Rettung dann doch selbst getötet? Und wie viele, die weiter lebten, ge-

lähmt, zerbrochen, vernichtet bis zu ihrem Lebensende, unfähig, in den

Schoß der Normalität zurückzukehren? Und wie viele sind da geblieben mit

ihrer einsamen Hoffnung, die sie mit ihrem Leben bezahlten? Heute sind sie

alle tot – ihre Körper. Aber was ist mit ihren Seelen? Es heißt doch, die Seele

sei unsterblich? Kutti Ashan und all die Ahnenkultur-Völker würden vermuten:


Sie rufen nach den Lebenden, lassen sie deshalb nicht vergessen, weil noch

etwas getan werden muss, damit die alten Seelen ihren Frieden finden …

Was denke ich da? In Deutschland muten solcherart Gedanken befrem-

dend an, zumindest in Sachen deutsche Vergangenheit, Heimat und Ahnen.

Doch die Aufenthalte bei fremden Kulturen prägen, dort lässt es sich leichter

denken und fühlen. Es ist doch nur logisch, wer sich lange sehr weit weg be-

wegt von daheim, blickt folglich aus weiter Entfernung auf die Heimat und

ihre Wunden, die Ferne ermöglicht, das Gewohnte aus größeren Perspekti-

ven zu sehen. Die so gewonnenen Eindrücke auf die eigene Heimat zu über-

tragen, die Verwundung der eigenen Kultur und somit auch die persönliche

wahrzunehmen, dann Heilungschancen zu erahnen und dies alles in

Deutschland zu artikulieren und laut zu sagen, erforderte jahrelange Selbst-

ermutigung. Die Angst vor Spott und nicht zuletzt vor dem Urteil, als antisemi-

tisch zu gelten, lähmten meine Zunge.

Wieder und wieder in mich hinein horchend untersuchte ich meine Wege.

Ganz jung, als ich selbst floh vor diesem Niemand-Land, sah ich in Asien alte

Meister, sah das Ahnenverneigungsfest am Meer, hunderttausende, die in

den Schaum der Brandung getaucht ihrer Toten gedenken, sich vor ihnen

verneigen in einem sinnlichen Fest, laut und bunt, sah Beschwörer mit un-

glücklichen Ahnen kommunizieren, um herauszufinden, was ihnen fehlte,

damit sie den ewigen Frieden finden und so auch die Verwandten ihre Tage

wieder friedlicher verbringen …

Gänsehaut. Was geht hier vor? Welche Kräfte holten mich aus der weiten

exotischen Welt zurück heim in mein klägliches Land? Ja, überall in der Fer-

ne schämte ich mich meiner Nation. Dabei gibt es so vieles, worauf man stolz

sein kann, und so viele, von denen ich erst seit ein paar Jahren weiß. Doch

die kollektive Erinnerung ist auf wenige reduziert, Thomas Mann stets von

neuem zelebriert, auch Bertolt Brecht – Tucholsky und Kafka mitunter wohl

aus dem simplen Grund, weil sie schon über 70 Jahre tot und die Rechte frei

sind, man also nichts bezahlen muss, wenn man ihre Texte öffentlich liest.

Was ist mit den anderen 2498? Falls man sie überhaupt zählen kann. Zwei-

einhalb tausend Denker oder mehr vertrieben, aus dem Land gejagt wie Ver-

brecher: Weil sie selbständig denken wollten – und dies auch taten.

Ach, das ist doch so lange her!


»Bohr nicht immer in den alten Wunden!« hat der Vater mir eingebleut und

mich weder Gehorsam noch Überzeugtsein gelehrt, das Gras, das über alles

wächst, zu akzeptieren. Um die ganze Welt bin ich gelaufen, fort von solchen

Methoden, und wohl weil die Erde rund, am Ende wieder am Ursprungsort

Deutschland angelangt. Die gesamte Nation hat geschwiegen und gewartet,

bis das Gras endlich hoch genug … Kaum war es drüber gewachsen, fingen

die Dämonen an zu tanzen. Jaja, da lachen die modernen Menschen. Haha,

Dämonen bei uns?! Psychologen werden von therapiehungrigen Menschen

mit wachsendem Bedarf konsultiert, wie viele Seminare und Workshops an-

geboten – nur ein neues Hobby? Überall suchen Menschen nach Heilung

und Versöhnung.

Wieder Gänsehaut. Was geht hier vor? Sechs Wochen nach dem Tod ei-

nes Fremden, ein alter Meister, Tänzer und Heiler, der letzte Schamane von

Kerala in Südindien, sitze ich unter Fremden in Deutschland, um einen Verein

zu gründen, die Werke von Ahnen nachträglich aus den Flammen zu retten.

Sie und wir haben den Frieden noch nicht gefunden! Denn noch immer ver-

meiden wir das Fühlen. Ist es nicht längst an der Zeit, uns ganz tief in dieses

schwarze Loch hinein zu empfinden, wo sie auf unsere Augen warten, wo wir

uns vor ihnen verneigen und dann gemeinsam heraus steigen ins Licht? Ein

Ahnenverneigungsfest – warum eigentlich nicht? Wurzeln und Heimat aus

anderen Perspektiven betrachten! Warum nicht das Experiment wagen, von

den alten Ahnenvölkern zu lernen und etwas zu tun, wofür sich Gelehrte und

Intellektuelle fürgewöhnlich schämen: Mit den Ahnen sprechen, mit den ver-

gessenen Toten! Kommt Ihr alten verwundeten Seelen, wir hören Euch zu

und feiern ein Fest für Euren – und auch unseren – Seelenfrieden!

So und ähnlich denke ich laut in den Film hinein, wage es endlich, die Ge-

danken auszusprechen. Und während der drei Monate Schneiden und Tüf-

teln wächst ein heilsames Lächeln über meine Wangen. »Das Brandloch«

fast 90 Minuten lang hatte im April 2008 Premiere im übervollen Heppel&Ett-

lich in München, im Stadtteil Schwabing, wo viele jener Verbotenen einst leb-

ten und studierten. Nach der Vorführung schon wieder menschliche Katastro-

phen. Der Film löste heftige Kontroversen aus, bei KollegenInnen und ande-

ren. Angegriffen wurde ich, als hätte ich etwas Ungehöriges getan, gelobt

wurde ich, als hätte ich etwas Ungewöhnliches, ja völlig Neues gewagt. Lob


und Wut über meine Betrachtung. Und überhaupt sei das kein Brandloch-

Film! Haare sträubend fielen die Kritiken an der Familientherapeutin aus, die

im Film über ihre Erfahrungen spricht und durchaus Anregendes zum Thema

Traumatisierung durch NS-Vergangenheit und dessen Aufarbeitung mitzutei-

len hat, u.a. am Beispiel eines Rechtsradikalen und seiner Heilung. Die kann

ja nicht reden und fuchtelt andauernd mit ihren Händen! Wie die geschminkt

ist! Und die lackierten Nägel …

Wie ist es möglich, dass intelligente Menschen so reden? Auch der Name

BrandlochFest stieß auf gelegentlichen Unmut. »Gibt es da was zu feiern?«

schalt ein alter Germanistik-Professor, ein Experte der verbotenen Literatur

und deren Gedenklesungen. »Nein, sehr geehrter Herr … ‘Fest‘ leitet sich

von ‘fester Termin‘ ab. Mit freundlichen Grüßen …«

Daraufhin kein »Ach-so, ja dann« oder ähnliches von Verständnis, statt-

dessen Schweigen und – wohl aus Scham – beständiges Ignorieren.

Ich weiß, was uns fehlt: Die Ahnen sind uns abhanden gekommen. Die ei-

nen gequält, entwürdigt, verschmäht, zu früh, zu grausam aus dem Leben

gezwungen, fortgeholt in Höllen oder einfach vergessen, die anderen Quäler

und Täter, viel belohnt oder zumindest beachtet, im Grunde selbst Opfer

nämlich von Gehorsam, Zucht und Ordnung eingebleut von Mutter, Vater,

Staat und Gesellschaft, unfähig gemacht, eigenständig zu fühlen, so treiben

die Seelen noch heute trostlos umher und verwirren uns energetisch.

Das Brandloch! Der Film bei knapp 30 deutschsprachigen Filmfestivals

eingereicht wurde überall abgelehnt – das war mit meinen filmischen Arbeiten

bis dahin nie vorgekommen. Das Münchner Dokumentarfilmfest, wo unsere

indischen Dokumentarfilme 2000 und 2002 vertreten waren, überging Das

Brandloch besonders vortrefflich schweigend. Man kannte mich doch! Zwei-

mal hatte ich an den Festivalleiter geschrieben, sogar DVD mit allen Unterla-

gen persönlich im Münchner Büro abgegeben. Vielleicht ist man im Ausland

aufgeschlossener gegenüber diesem ungeliebten Thema, überlegte ich und

fragte bei German Films wegen einer Untertitelförderung an. Nach Ansicht

des Films gab es grünes Licht mit der Vermittlung an ein Filmfestival in Ams-

terdam. Würde der Festivalleiter – der deutschen Sprache mächtig – den

Film nehmen, stünde der Untertitelförderung nichts mehr im Wege. Folgende

Antwort erhielt ich von ihm: »Thank you for submitting your film which I wat-


ched and was intrigued by. I am sure the film has an appreciative public, but

I feel that for our festival goals and public it is not truly suitable. Without going

into the details of the film, the subject is for me clearly of local interest.«

Man war also fasziniert von dem Film, meinte jedoch, das Thema sei für

das holländische Publikum nicht wirklich geeignet, sondern eher von lokalem

Interesse, soll heißen, der Film betreffe lediglich die Region München? Was

ist mit Anne Frank, Irmgard Keun, Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch, Nico

Rost, Joseph Roth, Ernst Toller, Stefan Zweig und mit all den unzähligen an-

deren, für die Holland Durchgangsstation ins Exil war, die sich in Amsterdam

vor den Nazis versteckten, was ist mit den Exilverlagen, die dort den freien

Gedanken zu retten versuchten, darunter manch ein Verleger, der für die Ret-

tung der Sprachschätze sein Leben verlor …

Ein einziges Festival – zufällig in München – nahm den Film in sein Pro-

gramm auf: Das Festival des gescheiterten Films! Und dafür schäme ich mich

gar nicht, denn Festivalorganisator HWMüller sieht das Scheitern nicht als ein

Versagen, sondern bewusstes Entsagen von Konventionen.

Das Brandloch! Der Film hinterließ Spuren. Eigentlich kann sich ein Künst-

ler nichts besseres wünschen. Doch die Spuren verwundeten mich, meine

Enttäuschung über zornig strafende Reaktionen aus den eigenen Reihen

raubten mir phasenweise jede Zuversicht. Wofür lohnt es noch, sich zu en-

gagieren? Was für einen Sinn haben Visionen, die solche Blockaden in der

Realität erzeugen? Wieder zuschauen, wie die Menschen gegen Schatten

fechten, wie sie an Spaltungen ihre Energien vertun. Eine hässliche Furche

fraß sich durch die Münchner Regionalgruppe des Schriftstellerverbands, der

sich seitdem möglicherweise in einem fortwährenden Auflösungsprozess be-

findet. Wer dort noch mitredet, und das ist die Mehrzahl, hat keinen Sinn für

das Projekt Brandloch. Die Mitgliederversammlung des Landesverbands

Bayern hat entschieden. Im Herbst 2012. Und zwar ganz eindeutig. Über ei-

nen gewissen Zeitraum hinweg müsse ein Projekt auch neu bewertet werden

können. Man nimmt sich die Freiheit! Von außen versteht man es nicht, wer

einmal drinnen war und nun draußen ist, ahnt mit Schaudern …

Die behindernden Kräfte vergangener Jahre erinnern bisweilen unange-

nehm an Passagen in Werken von Elisabeth Castonier oder Irmgard Keun

oder Hermynia zur Mühlen, die in ihren Dokumentationen der Dreißigerjahre


über die Gefahren von Seiten der eigenen Familie, der Freunde und Kollegen

berichten, wie diese im allgemeinen Fieber des aufkommenden Nationalso-

zialismus dem Mainstream sich selbst opferten – nämlich das Fühlen. Doch

heute werden sie meist wie exotische Historien gelesen und kaum in Analo-

gie mit der Gegenwart erkannt. Das ist die Schattenseite von alten Büchern,

die 1933 verboten und verbrannt, dann später wieder neu aufgelegt wurden.

Der Vergleich menschlicher Verhaltensweisen damals und heute könnte die

Augen öffnen, wie nämlich in allen Zeiten möglich wäre, was man doch so

eifrig bekämpft.

Was wäre mit mir geschehen im Dritten Reich? Wer hätte mich hinter Git-

ter gebracht? So dürfe man nicht fragen – das sei eine andere Zeit gewesen!

Wie unerhört, was ich da denke! Ein Freund derart entrüstet sprach nie wie-

der mit mir.

Eine andere Zeit? Sie trug andere Moden auf Bühnen mit anderen Kulis-

sen, doch waren es Menschen, die sie bevölkerten, die im Kleinen begannen,

sich an der Zerstörung zu befriedigen. Die Tragödie ist die Menge. Die fühl-

ten, waren zu wenig, die sich ihrer Empfindung nicht schämten und sie mutig

kundtaten. Nestbeschmutzer genannt werden sie in allen Zeiten bekämpft

und bestraft. Die Moden modern über Nacht, nur Hüllen, die Blinden zu täu-

schen, damit der Thaler rollt. Obwohl von der Geschichte seit der Steinzeit

gelehrt bleibt sie unbegriffen. Der Teufel kommt nie im gleichen Kostüm!

Setzt sich die Dynamik erst einmal in Bewegung, wird Bremsen zusehends

unmöglich …

Nein, nicht den negativen Erfahrungen so viel Raum widmen! Neben den

Behinderungen gab es bewegende Momente. Das gemeinsamen Schaffen

stiftete heilsame Energien, die schubkraftartig auf das Publikum überspran-

gen und geradezu magisch auf das Fühlen einwirkte. Freilich auch Tränen,

und dann doch Freude – was für Begegnungen! Danke, Sie haben uns ganz

neu angeregt! Machen Sie weiter, das Projekt ist so wichtig! Und es war doch

ein Fest! Es sind diese Stimmen, die zum Weitermachen bestärken, und

jene, die aus der Vergangenheit wirken, dieser Geist der kulturellen Ahnen,

die die Gegenwart befruchten. Keine Totenfeiern! Fühlen! Vergangenheit und

Gegenwart deuten, Symptome und ihre Wirkungen in Beziehung bringen,

fragen: Warum greifen zahlreich und früh ausgesprochene Warnungen nicht


– gestern wie heute? Nein, keine Totenfeiern, der Geist stirbt nicht, weder der

eine, den wir gut nennen, noch der, den wir böse nennen. Die Energie exis-

tiert, ob sie gesehen wird oder nicht. Der Sinn will vor unseren Blick, was

ohne Erinnerung schier unmöglich ist. Der Sinn macht verständlich, was da in

Wirklichkeit geschah. Ein Mythos könnte hier auf die Zukunft warten und sie

wären die Helden des neuen Deutschland. Ja, hier gibt es etwas zu feiern,

ein Ahnenverneigungsfest ein Mal im Jahr, um sich vor den kulturellen Ahnen

zu verneigen. Diese Tat wird uns wieder mit allen Ahnen verbinden und unse-

re Wurzeln heilen. Das ist das Fundament für eine gesunde Zukunft.

Was für ein Gefühl vernehme ich da? Ganz leise tapst es durch mich. Si-

cher stehe ich auf festem Boden, unter meinen Sohlen verzweigen sich Wur-

zeln bis weit vor meiner Zeit, im Innern wärmend – ist es Stolz, weil dort Hel-

den sind, die mich stärken … Stolz? Hilfe! Darf ich das? Ich bin doch eine

Deutsche. Stolz sein auf die nationale Herkunft? Wenn gerade im Fußball

wieder erfolgreich fahren die Deutschen plötzlich mit der Deutschlandfahne

durch die Gegend. Ganz neu dieses Phänomen, und einige wittern bereits

Gefahr, reagieren allergisch auf alles, was national ist – warum? Auch wenn

man es nur leise flüstert, Nationalbewusstsein ist dem Deutschen ungeheuer.

Im Grunde verboten.

»Stolz ist das Gefühl einer großen Zufriedenheit mit sich selbst, einer

Hochachtung seiner selbst – sei es der eigenen Person, sei es in ihrem Zu-

sammenhang mit einem hoch geachteten bzw. verehrten ‘Ganzen‘.« erklärt

Wikipedia.

In mir räkelt sich eine Stimme zum Vorschein: Wie tief verankert ist dieses

Deutschgefühl? Wie sieht es ganz innen drin aus? In Indien habe ich herum

gefragt: Wie ist es bei Euch? Eine Antwort werde ich nie vergessen: »Thanks

God, I‘m born in India!«

Das ist lange her. Dennoch hat die Zeit nicht ausgereicht für die Übung, so

zu sprechen und zu fühlen: Ich danke Gott, dass ich in Deutschland geboren

bin!


Nun, da dies keine Schrift mit literarischem Anspruch ist, denn das Kultur-

referat unterstützt nur solche und uns nicht, sondern einfach laut gemachte

Reflexionen, will ich den Gedankengeistern unzensiert und frei als Stimme


dienen. Seit die wiederbelebten Selber-Denkenden und Selber-Fühlenden

sich langsam aus dem Dunkel des Brandlochs erheben und durch sie inspi-

riert neu denken und gestalten lernen möglich wird, was die Vergangenheit

betrifft, reift im Innern etwas heran, was ich nie kannte: deutsche Identität! Es

sind die Wurzeln unter meinen Sohlen, die immer tiefer hinunter greifen und

gesunden. Hier komme ich her! Meine Herkunft! Das ist alles. Und ich, ein

Kind der Gegenwart, kann nun lächelnd sagen: Seid willkommen, Ihr Ahnen!

Ich wachse an Euch …



 

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