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Hunger nach Leben

  • Autorenbild: Sylvie Bantle
    Sylvie Bantle
  • 21. März
  • 49 Min. Lesezeit


Hunger nach Leben

(aus Punnapra aber umgarbeitet f.Anthologie/Madeleine)


»Um Gottes willen Kind!« rief Frau Zett in Deutlichland, »Kind, überleg dir gut, was du

da tust!«

Entsetzt über den Entschluss ihrer Erstgeborenen starrte die Mutter ihr Kind an, als

quälten sie schlimme Schmerzen. Da aber die volljährige Tochter unbeeindruckt von dem

mütterlichen Jammern und Klagen blieb, resignierte sie schnell und ohne Einsicht.

Weinerlich sagte sie fast ehend:

»Versprich, dass du heim kommst, wenn du nichts mehr zu essen hast!«

Der Vater, unschlüssig daneben stehend, bezeugte die Bestürzung seiner Frau mit leerem

Gesicht. Elisabeth lachte einundzwanzigjährig dagegen. Wie konnte ein Mensch in

unschuldiger Jugend an Hungerleiden denken! Ihre Lebenslust wurde von den Erwachsenen

völlig missverstanden und als Dummheit und Leichtsinn interpretiert, allenfalls mit Mut

verwechselt, den es zu beweisen gelte. Von Zweifeln unberührt und erst in späteren Jahren

zuweilen davon belästigt, bastelte Elisabeth an eigenen Entwürfen, um ihren Lebenshunger

zu stillen. Reisen wollte sie und die Welt erkunden! Düstere Gedanken anderer versagten

kläglich, ihren Durst nach Abenteuer zu bremsen oder gar ihre ersten Schritte mit

Sicherheit und Wohlstand zu ködern. Natürlich war sie nicht von Sinnen, sie wusste genau,

dass Träume auch nanziert werden müssen. Von ihren Welterkundungen sporadisch in die

Heimat zurückgeweht, würde sie arbeiten und Geld für weitere Abenteuer verdienen! So

hatte sie es sich vorgenommen, und an oberster Priorität sollte stets ein freies Leben

stehen.

Weder die Ängste der Mutter noch das leere Gesicht des Vaters vermochten Argwohn

zu schüren, Elisabeth hatte sie nicht einmal richtig wahrgenommen – erinnerte sich erst in der Mitte ihres Lebens. Die Eltern, eine undurchdringliche Front, hatten nichts von alledem

begriffen! Die Pläne der volljährigen Tochter wurden leichfertig mit »Flausen« und »Dumme

Ideen!« benannt, und manchmal gebärdete sich der Vater geradezu prophetisch:

»Du wirst schon sehen, irgendwann landest du als Klofrau in einer öffentlichen Toilette!«

Elisabeth, kaum beleidigt von solchem Irrtum, ließ sich nicht einschüchtern in ihrem

Feuer. »Ach was!« übertönte sie die elterlichen Prognosen und dachte bei sich: Eltern sind nun mal so, dauernd in Sorge wissen sie alles besser! Was riskieren sie denn?

Wahrscheinlich sind sie neidisch … ach, was wissen sie schon vom Leben! So hatte sie

gedacht und sich arglos auf den Weg gemacht.

Wie eine gleißend helle Weite sah sie die Zukunft vor sich ausgebreitet, ein Raum von

unendlicher Größe, den sie erkunden wollte – wenngleich eine leise Ahnung mahnte, ein

einziges Leben würde nicht genügen. Um im Fluss zu bleiben, wollte sie sich bloß nicht an allzu weit geworfene Ziele binden – wie hätte sie heute ahnen können, was sie ein Jahr später empfand? Also marschierte sie zum Entsetzen von Eltern und Tanten einfach

Richtung Zukunft, Schritt für Schritt in ihr junges, selbst bestimmtes Leben und mit jedem

Schritt fühlte sie die große Ersehnte näher rücken: Freiheit!

Das Hungerleiden lernte sie freilich kennen – den Preis für so viel Hunger. Das Leiden

indes hielt sich in erträglichen Zonen. Erstaunlicherweise war es doch nur der Körper, der

litt. Exkursionen in entlegenste Winkel fremder Kontinente, durch Urwälder und Wüsten

entlohnten ihren Verzicht. Innerlich umso glücklicher, sammelte sie Erfahrungen mit

Seltenheitswert. Das Leiden reduzierte sich ganz automatisch. Etliche Monate unterwegs in der Fremde, vergaß der Körper leise, was er sonst zu Hause zu brauchen schien:

Sauerkraut mit Wammerl, Butterbrezen, Weißwurst mit süßem Senf, Mozzarella,

Ziegenkäse und Parmaschinken, Nusshörnchen, Sarcletti-Eis, lokales Bier und mediterranen


Wein, Spaghetti al dente mit Pesto und Parmesan, Cappuccino, Grappa, Amaretto und

Kuchen, Erdbeeren mit Schlagsahne …

War nichts anderes vorhanden und der Magen leer, verspeiste man abenteuerlustig auch

frisch gegrillte Riesenameisen! – eine Delikatesse bei einigen Völkern. In Westafrika aß

Elisabeth vorwiegend Puten-Popos, die – eigentlich Abfall ausländischer Ge ügelfabriken,

von den Einheimischen auf den Straßen scharenweise verkauft wurden. Elisabeth liebte

fettes Fleisch, von ihrem Gaumen mit Freuden aufgenommen, wenn auch weniger von ihrer

Verdauung vertragen. Auf den Inselketten im pazi schen Ozean aß sie sogar Hundegulasch,

Schlangensteaks und Quallensuppe mit Seegurken-Einlage. Welche Tierarten sie sonst noch

vertilgt hatte, würde sie nie in Erfahrung bringen. Als sie das Rezept ihrer Lieblingsspeise,

grünem Papayasalat, erfuhr, vernahm sie mit Schaudern, was eine der Zutaten war:

zerstößelte Kakerlaken! Bei den Dogon in Mali lud man sie gastfreundlich zu selbst

gebrautem ‘Spuckebier‘ ein. Launischer Appetit und verwöhnte Geschmacksnerven zwar in

Aufruhr versetzt, überwand sie tapfer die panische Abwehr und trank mit unerschrockener

Miene den Anstandsschluck. Lächelnd dankte sie für das Gesöff, das aussah wie schlammiges

Schmutzwasser und ebenso schmeckte – die freundlichen Gesichter zu enttäuschen, hätte

sie als das schlimmere Übel empfunden. In der großen Wüste wurde sie beim Essen und

Trinken von Fliegen-Geschwadern attackiert, ständig platschte ein schwarzes Knäuel

zappelnd und ügelschlagend in Gemüseeintopf oder Bananenporridge. Beim Frühstück

spielten sich besonders dramatische Todeskampfdramen ab, denn die zähe Porridgemasse

verklebte Beinchen und Flügel, die aufdringlichen Flieger starben noch an der

Unglücksstelle an ihrer eigenen Gier. Ihr grausamer Tod war kein Triumph von Dauer. Jeden

Bissen musste sie von neuem untersuchen, bevor sie ihn in den Mund zu schieben wagte.

Auch mit jenen exotischen Krankheiten, über die sie in Abenteuerromanen gelesen hatte,

machte sie Bekanntschaft. Auf einer tropischen Insel mit weißen Stränden und leuchtend

türkisfarbenen Buchten lag sie acht Tage an Dengi-Fieber erkrankt darnieder – süßes

Delirium und verwirrtes Aufwachen. Sie träumte vom Sterben und staunte, wie schön das

Verschwinden vonstatten ging, wie leicht, körperlos davon zu iegen in lichtige Sphären. Im

höchsten Gebirge der Welt erkrankte sie an Amöbenruhr und schleppte sich mit letzten

Kräften nach Kathmandu. Innerlich von Würmern befallen, äußerlich zerstochen von Läusen

und Wanzen, albtraumgeplagt von Kakerlaken und Vogelspinnen auch in Kokosnussland.

Irgendwo in afrikanischen Savannen nisteten Sand iegen sogar Eier unter ihre Fußnägel …

Das alles, in den jeweiligen Ländern Normalität, klang in den Ohren der sauberen Heimat

fürchterlich, ihre Landsleute schüttelten sich vor Grusel. Und sie? Sie lachte. Es war

nebensächlich – und doch wichtig.

Nach einigen Jahren des Reisens nach Überallhin, verstummte allmählich der Drang,

immer noch weiter in die Ferne zu schweifen. Zuerst ein bisschen nur, unmerklich noch,

dann deutlicher. Müdigkeit über el sie. Zwei Seiten in ihr, die eine verstand, die andere

nicht. Erst in der Mitte des Lebens gab sich ein neues Verlangen zu Erkennen: Wurzeln

schlagen wollte sie! Die Einsicht folgte unversehends: Das Vagabundieren hinderte sie am

Wurzelnschlagen! Allmählich wurden die Aufenthalte länger an jedem Ort, auch dort, wo

»Heimat« in ihren Pass gestempelt war.

An einem Tag wie jedem anderen in Heimatland ging sie die belebte Straße entlang. Beim

Bäcker hatte sie ein Nusshörnchen gekauft für nachher zum Cappuccino. Doch zuerst noch

die leeren Flaschen zum Container bringen. Das rhythmische Geklapper in der Stofftasche

klang, als freuten sie sich. Sie warf sie in die Container neben dem kleinen Park, Grünglas,

Weißglas, Braunglas. Die Sonne schien. Sie dachte: Auf der Bank dort drüben ist es

sicherlich schön warm! Sie lief an dem verlassenen Sandkasten vorbei über die feuchte


Wiese, setzte sich auf die Bank. Es war schön warm. Wie gut das tat nach dem langen

Winter.

Der kleine Park, menschenleer, gehörte ihr, kein Laut von Zivilisation, nur Vogelgesang

erreichte ihre Sinne. Ein ganz normaler Wochentag, die Kinder in Schule und Kindergarten,

die Erwachsenen in der Arbeit. Nur sie in der kleinen grünen Zelle der großen Stadt auf

der warmen Bank. Die Vorstellung einer ausgestorbenen Welt ge el ihr – und sie als einzige

übrig geblieben. Das Motoren der vorbeifahrenden Autos auf der Straße unweit entfernt,

entging ihrem träumenden Gehör, von dem rundum vielen Grün regelrecht aufgesogen. Das

Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen gereckt, schloss sie die Augen. Feuermuster tanzten

unter ihren Lidern. Irgendwann sprach sie eine weibliche Stimme an:

»Es ist bestimmt schön warm auf der Bank.«

»Ja …« antwortete Elisabeth irritiert in die Sonne blinzelnd.

Vor ihr eine alte Frau, die sich lächelnd neben sie setzte. Eine Weile verstrich mit

schweigendem Baden in den wärmenden Sonnenstrahlen. Dann fragte die Fremde:

»Sind sie zufrieden mit ihrem Leben?«

Elisabeth verdutzt, wie diese Fremde so etwas fragen konnte, blickte auf und wusste

nicht, was sagen – die Frage überforderte sie. Zufrieden mit ihrem Leben? Wohl kaum!

Doch ebensowenig todunglücklich. Die Antwort weder »ja« noch »nein« lag irgendwo

dazwischen. Sie hatte doch Augen im Kopf und sah das Leben der anderen. Ihr erging es da

noch am besten, zumindest was die persönliche Freiheit betraf. Eigentlich hatte sie kein

Recht zur Klage, doch zum Jubeln fehlte ihr die Stimmung. Sich in langes Grübeln

versenkend, schienen mit einem Mal alle Elemente in ihr sich in Bewegung zu schwingen,

darauf eine Antwort zu nden.

Das Nusshörnchen in der Tasche el ihr ein, verursachte augenblicklich eine unbändige

Lust hinein zu beißen. Doch neben dieser alten Frau alleine zu essen, hätte sie schäbig

gefunden, aber zu warten, bis sie wieder gegangen war, hätte wiederum ihr Heißhunger

nicht ertragen. Kurzerhand holte sie die Papiertüte aus der Tasche, packte das Gebäck aus

und brach es in zwei Teile.

»Möchten sie ein Stück?«

Das alte Gesicht der Frau blitzte auf, »Oh, was für eine schöne Überraschung!«, dann

nahm sie lächelnd die angebotene Hälfte entgegen.

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?« fragte nun Elisabeth, in ihrer Stimme ein Ton, als

existierte lediglich die Frage, aber keine Antwort dazu.

»Mit welchem?« gab die alte Frau zurück und tat einen Bissen, um ihren Mund

Wohlgenuss.

Elisabeth schwieg verwirrt – was meinte sie nur?

»Im Augenblick bin ich sehr zufrieden.« fuhr die Alte genießerisch fort, während sie

kaute.

Elisabeth musterte sie.

»Wie gut das Nusshörnchen schmeckt!« sagte die Fremde und die Freude in ihren

Augen verjüngte sie, »In einem meiner anderen Leben kann ich mich nicht sonderlich an

solchen Dinge erfreuen, dort bin ich eine andere.«

Elisabeth starrte sie an – war die Alte verrückt?

»Jetzt denken sie sicherlich, ich sei verrückt!« lachte die Frau und riss den Mund auf.

Elisabeth erschrocken und verlegen, fühlte sich ertappt wie ein Dieb auf frischer Tat.

Verlegen blickte sie in den aufgerissenen Mund, gestand jedoch nichts von ihren heimlichen

Gedanken, die die Fremde ohnehin zu erraten schien. Sie geriet in Bedrängnis, fand die Alte

nun doch nicht verrückt. Ihr Reden machte sie neugierig, aber was meinte sie. Trieb sie

einen Spaß mit ihr? Ach, was wäre daran schon auszusetzen, immer diese Ernsthaftigkeit,

wozu …


»Wie viele Leben leben sie denn?« stieg sie auf die absurde Geschichte ein, in der

einzigen Absicht, das Vergnügen nicht zu verderben.

»Oh, einige …«, die Alte hielt inne, überlegte, »momentan fünf, früher waren es mehr

gewesen.«

»Ihre Leben sind weniger geworden? Wie konnte denn das geschehen?«

Elisabeth kam sich vor wie ein Kind, das naive Fragen stellte. Es war egal, ob das, was sie

da miteinander sprachen, Unsinn oder Sinn, der Realität oder sonst dergleichen entsprach.

Gänzlich auf den Verzehr des Nusshörnchens eingestellt, war die Zensur endlich außer

Kraft gesetzt, den Ver-stand permanent zu kontrollieren.

»Ich glaube, das muss so sein.« nahm die Alte schnell den Faden wieder auf »Es war

meine eigene Entscheidung! Ist mir einfach zu viel geworden, und außerdem, einige Leben

stellten sich in der Praxis als äußerst unbrauchbar für mich heraus …«

Sie brach ab, schien plötzlich im Gesicht ihres Gegenübers etwas Außerordentliches zu

entdecken.Verunsichert erwiderte Elisabeth den musternden Blick.

»Nun, junge Frau,« setzte die Alte von neuem an, ihr Tonfall wie der einer Mutter, die ihr

Kind durchschaute, »seien Sie mal ehrlich, welche Leben würden sie gerne leben, wenn Sie

die Möglichkeit hätten?«

Diese Worte trafen geradewegs ins Zentrum ihrer Wünsche. Seit Elisabeth sich

erinnerte, malte sie sich verschiedene Leben aus, parallel gelebt von ihr, der Unersättlichen,

und je nach Lust und Laune sprang sie in die jeweiligen Existenzen hinein – all ihre Träume

und Visionen würde sie gleichzeitig verwirklichen können! In ihren Augen glänzte

Verzückung und ein schiefes Lächeln zog sich diagonal über ihr Gesicht, wie es für den

Rausch so typisch ist. So schaute sie die alte Frau an.

»Wie viele Leben stehen mir zur Verfügung?«

»Oh, so viele Sie wünschen, junge Frau!«

In Elisabeths Kopf entstand Tumult, die Vorschläge überschlugen sich. Ruhe! Ruhe! dachte

sie aufgeregt, eines nach dem anderen, die Reihenfolge sollte vorerst keine Rolle spielen.

»Ich wäre gern …« begann sie sich zu konzentrieren und geriet ins Stocken.

Was sollte sie als erstes nennen? Nun gut, das Ordnen würde sie später erledigen.

»Also, ich hätte gern …«

Eine Kardamon-Farm in Kokosnussland! Und eine Kaffee-Planatge in den Bergen und

auch eine in Afrika! Ein Leben mit der Wildnis, ja, mit der allgegenwärtigen Gefahr! Und sie

wäre gern ein Vagabund, namenlos an jedem Ort! Eine wilde Zigeunerin, die sang und

tanzte, Flamenco in Spanien! Medizinfrau in der weiten Prärie von Australien!

Del nforscherin in der Karibik! Fischersfrau und Mutter von fröhlichen Kindern auf einer

kleinen Insel im Pazi k! Nonne in einem buddhistischen Kloster! Reich und mächtig, und

dann die Welt verändern …

Das hohe Fenster eines Erkerzimmers schlich ihr unvermittelt in den Sinn. Vor vielen

Jahren war es ihr in einer Kleinstadt an der Atlantikküste aufgefallen. Dort oben in dem

Erkerzimmer sah sie sich in einem Schaukelstuhl sitzen, mal mit Strickzeug mal mit einem

Buch und zwischendurch auf das Hauptsträßlein hinunterblicken. Es gab nicht viel zu sehen,

jahraus, jahrein die gleiche Szenerie. Immer dieselben Leute gingen in die eine oder die

andere Richtung auf dem Weg zu ihren Besorgungen und kamen wieder vorbei auf dem

Nachhauseweg. Manchmal schlenderte ein Fremder die Lädchen entlang. Keine P ichten

stahlen ihr die Zeit, alle Stunden gehörten dem Sinn der Nutzlosigkeit. Eine Haushälterin

besorgte den Haushalt, ein Rechtsanwalt die nanziellen Dinge. Sie war nicht übermäßig

wohlhabend, doch hatte sie gerade reichlich, bequem und sorgenfrei zu leben. Wunschlos

war sie, weder glücklich noch traurig, denn dieses Erkerchen genügte ihr. Geheiratet hatte

sie nie, eine Ehe hätte sie abgelenkt von der gemütlichen Monotonie. Täglich stand sie zur

gleichen Stunde auf, das siebenmalige Schlagen der Kirchturmuhr begleitete ihre ersten


Schritte am frühen Morgen. Und abends ging sie zur gleichen Stunde zu Bett mit einer

ausgewählten Lektüre. Was sie auch tat, nichts und niemand durfte sie stören. Ihr Leben

lang verbrachte sie ohne Freunde, um unangenehme Begleiterscheinungen von vornherein

auszuschließen, auch sonstige Aktivitäten vermied sie weise. In einer Kleinstadt, wo nicht

viel passierte, aus dem Erkerfenster im ersten Stock den Wahnsinn der Welt betrachtend,

völlig auf sich allein beschränkt, das fühlte sich sehr friedlich an …

»Oh oh oh, das ist gefährlich!« sagte die alte Frau neben ihr und zerriss das

Phantasiegewebe, »Das ist gefährlich!« wiederholte sie, weil Elisabeth nicht reagierte –

angewachsen auf dem Schaukelstuhl in dem Erkerzimmer an der spanischen Atlantikküste.

»… gefährlich?« murmelte sie benommen, »Falle ich etwa aus dem Fenster?«

Die Alte lachte grell, um gleich darauf mit ernster Miene abrupt zu verstummen, als hätte

jemand an einem Knopf gedreht und sie in andere Stimmung versetzt. Dann üsterte sie

mit beschwörender Stimme:

»Weil Sie vielleicht nie mehr zurückkommen werden!«

Elisabeth lächelte, das klang verheißungsvoll, eine Androhung, die dennoch unerbittlich

lockte.


Hunger nach Leben (für NICHTS LOS IN PUNNAPRA)


»Um Gottes willen Kind!« rief Frau Zett in Deutlichland, »Kind, überleg dir gut, was du da tust!«

Entsetzt über den Entschluss ihrer Erstgeborenen starrte die Mutter ihr Kind an, als quälten sie

schlimme Schmerzen. Da aber die volljährige Tochter unbeeindruckt von dem mütterlichen

Jammern und Klagen blieb, resignierte sie schnell und ohne Einsicht. Weinerlich sagte sie fast

ehend:

»Versprich, dass du heim kommst, wenn du nichts mehr zu essen hast!«

Der Vater, unschlüssig daneben stehend, bezeugte die Bestürzung seiner Frau mit leerem Gesicht.

Elisabeth lachte einundzwanzigjährig dagegen. Wie konnte ein Mensch in unschuldiger Jugend an

Hungerleiden denken! Ihre Lebenslust wurde von den Erwachsenen völlig missverstanden und als

Dummheit und Leichtsinn interpretiert, allenfalls mit Mut verwechselt, den es zu beweisen gelte.

Von Zweifeln unberührt und erst in späteren Jahren zuweilen davon belästigt, bastelte Elisabeth an

eigenen Entwürfen, um ihren Lebenshunger zu stillen. Reisen wollte sie und die Welt erkunden!

Düstere Gedanken anderer versagten kläglich, ihren Durst nach Abenteuer zu bremsen oder gar

ihre ersten Schritte mit Sicherheit und Wohlstand zu ködern. Natürlich war sie nicht von Sinnen, sie

wusste genau, dass Träume auch nanziert werden müssen. Von ihren Welterkundungen sporadisch

in die Heimat zurückgeweht, würde sie arbeiten und Geld für weitere Abenteuer verdienen! So

hatte sie es sich vorgenommen, und an oberster Priorität sollte stets ein freies Leben stehen.

Weder die Ängste der Mutter noch das leere Gesicht des Vaters vermochten Argwohn zu

schüren, Elisabeth hatte sie nicht einmal richtig wahrgenommen – erinnerte sich erst in der Mitte

ihres Lebens. Die Eltern, eine undurchdringliche Front, hatten nichts von alledem begriffen! Die

Pläne der volljährigen Tochter wurden leichfertig mit »Flausen« und »Dumme Ideen!« benannt, und

manchmal gebärdete sich der Vater geradezu prophetisch:

»Du wirst schon sehen, irgendwann landest du als Klofrau in einer öffentlichen Toilette!«

Elisabeth, kaum beleidigt von solchem Irrtum, ließ sich nicht einschüchtern in ihrem Feuer. »Ach

was!« übertönte sie die elterlichen Prognosen und dachte bei sich: Eltern sind nun mal so, dauernd

in Sorge wissen sie alles besser! Was riskieren sie denn? Wahrscheinlich sind sie neidisch … ach,

was wissen sie schon vom Leben! So hatte sie gedacht und sich arglos auf den Weg gemacht.

Wie eine gleißend helle Weite sah sie die Zukunft vor sich ausgebreitet, ein Raum von

unendlicher Größe, den sie erkunden wollte – wenngleich eine leise Ahnung mahnte, ein einziges

Leben würde nicht genügen. Um im Fluss zu bleiben, wollte sie sich bloß nicht an allzu weit geworfene Ziele binden – wie hätte sie heute ahnen können, was sie ein Jahr später empfand? Also marschierte sie zum Entsetzen von Eltern und Tanten einfach Richtung Zukunft, Schritt für Schritt in ihr junges, selbst bestimmtes Leben und mit jedem Schritt fühlte sie die große Ersehnte näher rücken: Freiheit!

Das Hungerleiden lernte sie freilich kennen – den Preis für so viel Hunger. Das Leiden indes hielt sich in erträglichen Zonen. Erstaunlicherweise war es doch nur der Körper, der litt. Exkursionen in entlegenste Winkel fremder Kontinente, durch Urwälder und Wüsten entlohnten ihren Verzicht.

Innerlich umso glücklicher, sammelte sie Erfahrungen mit Seltenheitswert. Das Leiden reduzierte sich ganz automatisch. Etliche Monate unterwegs in der Fremde, vergaß der Körper leise, was er sonst zu Hause zu brauchen schien:

Sauerkraut mit Wammerl, Butterbrezen, Weißwurst mit süßem Senf, Mozzarella, Ziegenkäse und Parmaschinken, Nusshörnchen, Sarcletti-Eis, lokales Bier und mediterranen Wein, Spaghetti al dente mit Pesto und Parmesan, Cappuccino, Grappa, Amaretto und Kuchen, Erdbeeren mit Schlagsahne …

War nichts anderes vorhanden und der Magen leer, verspeiste man abenteuerlustig auch frisch gegrillte Riesenameisen! – eine Delikatesse bei einigen Völkern. In Westafrika aß Elisabeth vorwiegend Puten-Popos, die – eigentlich Abfall ausländischer Ge ügelfabriken, von den Einheimischen auf den Straßen scharenweise verkauft wurden. Elisabeth liebte fettes Fleisch, von ihrem Gaumen mit Freuden aufgenommen, wenn auch weniger von ihrer Verdauung vertragen. Auf den Inselketten im pazi schen Ozean aß sie sogar Hundegulasch, Schlangensteaks und Quallensuppe mit Seegurken-Einlage. Welche Tierarten sie sonst noch vertilgt hatte, würde sie nie in Erfahrung bringen. Als sie das Rezept ihrer Lieblingsspeise, grünem Papayasalat, erfuhr, vernahm sie mit Schaudern, was eine der Zutaten war: zerstößelte Kakerlaken! Bei den Dogon in Mali lud man sie gastfreundlich zu selbst gebrautem ‘Spuckebier‘ ein. Launischer Appetit und verwöhnte Geschmacksnerven zwar in Aufruhr versetzt, überwand sie tapfer die panische Abwehr und trank mit unerschrockener Miene den Anstandsschluck. Lächelnd dankte sie für das Gesöff, das aussah


wie schlammiges Schmutzwasser und ebenso schmeckte – die freundlichen Gesichter zu

enttäuschen, hätte sie als das schlimmere Übel empfunden. In der großen Wüste wurde sie beim

Essen und Trinken von Fliegen-Geschwadern attackiert, ständig platschte ein schwarzes Knäuel

zappelnd und ügelschlagend in Gemüseeintopf oder Bananenporridge. Beim Frühstück spielten

sich besonders dramatische Todeskampfdramen ab, denn die zähe Porridgemasse verklebte

Beinchen und Flügel, die aufdringlichen Flieger starben noch an der Unglücksstelle an ihrer eigenen

Gier. Ihr grausamer Tod war kein Triumph von Dauer. Jeden Bissen musste sie von neuem

untersuchen, bevor sie ihn in den Mund zu schieben wagte. Auch mit jenen exotischen Krankheiten,

über die sie in Abenteuerromanen gelesen hatte, machte sie Bekanntschaft. Auf einer tropischen

Insel mit weißen Stränden und leuchtend türkisfarbenen Buchten lag sie acht Tage an Dengi-Fieber

erkrankt darnieder – süßes Delirium und verwirrtes Aufwachen. Sie träumte vom Sterben und

staunte, wie schön das Verschwinden vonstatten ging, wie leicht, körperlos davon zu iegen in

lichtige Sphären. Im höchsten Gebirge der Welt erkrankte sie an Amöbenruhr und schleppte sich

mit letzten Kräften nach Kathmandu. Innerlich von Würmern befallen, äußerlich zerstochen von

Läusen und Wanzen, albtraumgeplagt von Kakerlaken und Vogelspinnen auch in Kokosnussland.

Irgendwo in afrikanischen Savannen nisteten Sand iegen sogar Eier unter ihre Fußnägel …

Das alles, in den jeweiligen Ländern Normalität, klang in den Ohren der sauberen Heimat

fürchterlich, ihre Landsleute schüttelten sich vor Grusel. Und sie? Sie lachte. Es war nebensächlich –

und doch wichtig.

Nach einigen Jahren des Reisens nach Überallhin, verstummte allmählich der Drang, immer noch

weiter in die Ferne zu schweifen. Zuerst ein bisschen nur, unmerklich noch, dann deutlicher.

Müdigkeit über el sie. Zwei Seiten in ihr, die eine verstand, die andere nicht. Erst in der Mitte des

Lebens gab sich ein neues Verlangen zu Erkennen: Wurzeln schlagen wollte sie! Die Einsicht folgte

unversehends: Das Vagabundieren hinderte sie am Wurzelnschlagen! Allmählich wurden die

Aufenthalte länger an jedem Ort, auch dort, wo »Heimat« in ihren Pass gestempelt war.

An einem Tag wie jedem anderen in Heimatland ging sie die belebte Straße entlang. Beim Bäcker

hatte sie ein Nusshörnchen gekauft für nachher zum Cappuccino. Doch zuerst noch die leeren

Flaschen zum Container bringen. Das rhythmische Geklapper in der Stofftasche klang, als freuten

sie sich. Sie warf sie in die Container neben dem kleinen Park, Grünglas, Weißglas, Braunglas. Die

Sonne schien. Sie dachte: Auf der Bank dort drüben ist es sicherlich schön warm! Sie lief an dem

verlassenen Sandkasten vorbei über die feuchte Wiese, setzte sich auf die Bank. Es war schön warm.

Wie gut das tat nach dem langen Winter.

Der kleine Park, menschenleer, gehörte ihr, kein Laut von Zivilisation, nur Vogelgesang erreichte

ihre Sinne. Ein ganz normaler Wochentag, die Kinder in Schule und Kindergarten, die Erwachsenen

in der Arbeit. Nur sie in der kleinen grünen Zelle der großen Stadt auf der warmen Bank. Die

Vorstellung einer ausgestorbenen Welt ge el ihr – und sie als einzige übrig geblieben. Das Motoren

der vorbeifahrenden Autos auf der Straße unweit entfernt, entging ihrem träumenden Gehör, von

dem rundum vielen Grün regelrecht aufgesogen. Das Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen gereckt,

schloss sie die Augen. Feuermuster tanzten unter ihren Lidern. Irgendwann sprach sie eine

weibliche Stimme an:

»Es ist bestimmt schön warm auf der Bank.«

»Ja …« antwortete Elisabeth irritiert in die Sonne blinzelnd.

Vor ihr eine alte Frau, die sich lächelnd neben sie setzte. Eine Weile verstrich mit schweigendem

Baden in den wärmenden Sonnenstrahlen. Dann fragte die Fremde:

»Sind sie zufrieden mit ihrem Leben?«

Elisabeth verdutzt, wie diese Fremde so etwas fragen konnte, blickte auf und wusste nicht, was

sagen – die Frage überforderte sie. Zufrieden mit ihrem Leben? Wohl kaum! Doch ebensowenig

todunglücklich. Die Antwort weder »ja« noch »nein« lag irgendwo dazwischen. Sie hatte doch

Augen im Kopf und sah das Leben der anderen. Ihr erging es da noch am besten, zumindest was die

persönliche Freiheit betraf. Eigentlich hatte sie kein Recht zur Klage, doch zum Jubeln fehlte ihr die

Stimmung. Sich in langes Grübeln versenkend, schienen mit einem Mal alle Elemente in ihr sich in

Bewegung zu schwingen, darauf eine Antwort zu nden.

Das Nusshörnchen in der Tasche el ihr ein, verursachte augenblicklich eine unbändige Lust

hinein zu beißen. Doch neben dieser alten Frau alleine zu essen, hätte sie schäbig gefunden, aber zu

warten, bis sie wieder gegangen war, hätte wiederum ihr Heißhunger nicht ertragen. Kurzerhand

holte sie die Papiertüte aus der Tasche, packte das Gebäck aus und brach es in zwei Teile.

»Möchten sie ein Stück?«


Das alte Gesicht der Frau blitzte auf, »Oh, was für eine schöne Überraschung!«, dann nahm sie

lächelnd die angebotene Hälfte entgegen.

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?« fragte nun Elisabeth, in ihrer Stimme ein Ton, als existierte

lediglich die Frage, aber keine Antwort dazu.

»Mit welchem?« gab die alte Frau zurück und tat einen Bissen, um ihren Mund Wohlgenuss.

Elisabeth schwieg verwirrt – was meinte sie nur?

»Im Augenblick bin ich sehr zufrieden.« fuhr die Alte genießerisch fort, während sie kaute.

Elisabeth musterte sie.

»Wie gut das Nusshörnchen schmeckt!« sagte die Fremde und die Freude in ihren Augen

verjüngte sie, »In einem meiner anderen Leben kann ich mich nicht sonderlich an solchen Dinge

erfreuen, dort bin ich eine andere.«

Elisabeth starrte sie an – war die Alte verrückt?

»Jetzt denken sie sicherlich, ich sei verrückt!« lachte die Frau und riss den Mund auf.

Elisabeth erschrocken und verlegen, fühlte sich ertappt wie ein Dieb auf frischer Tat. Verlegen

blickte sie in den aufgerissenen Mund, gestand jedoch nichts von ihren heimlichen Gedanken, die die

Fremde ohnehin zu erraten schien. Sie geriet in Bedrängnis, fand die Alte nun doch nicht verrückt.

Ihr Reden machte sie neugierig, aber was meinte sie. Trieb sie einen Spaß mit ihr? Ach, was wäre

daran schon auszusetzen, immer diese Ernsthaftigkeit, wozu …

»Wie viele Leben leben sie denn?« stieg sie auf die absurde Geschichte ein, in der einzigen

Absicht, das Vergnügen nicht zu verderben.

»Oh, einige …«, die Alte hielt inne, überlegte, »momentan fünf, früher waren es mehr gewesen.«

»Ihre Leben sind weniger geworden? Wie konnte denn das geschehen?«

Elisabeth kam sich vor wie ein Kind, das naive Fragen stellte. Es war egal, ob das, was sie da

miteinander sprachen, Unsinn oder Sinn, der Realität oder sonst dergleichen entsprach. Gänzlich auf

den Verzehr des Nusshörnchens eingestellt, war die Zensur endlich außer Kraft gesetzt, den Ver-

stand permanent zu kontrollieren.

»Ich glaube, das muss so sein.« nahm die Alte schnell den Faden wieder auf »Es war meine eigene

Entscheidung! Ist mir einfach zu viel geworden, und außerdem, einige Leben stellten sich in der

Praxis als äußerst unbrauchbar für mich heraus …«

Sie brach ab, schien plötzlich im Gesicht ihres Gegenübers etwas Außerordentliches zu

entdecken.Verunsichert erwiderte Elisabeth den musternden Blick.

»Nun, junge Frau,« setzte die Alte von neuem an, ihr Tonfall wie der einer Mutter, die ihr Kind

durchschaute, »seien Sie mal ehrlich, welche Leben würden sie gerne leben, wenn Sie die

Möglichkeit hätten?«

Diese Worte trafen geradewegs ins Zentrum ihrer Wünsche. Seit Elisabeth sich erinnerte, malte

sie sich verschiedene Leben aus, parallel gelebt von ihr, der Unersättlichen, und je nach Lust und

Laune sprang sie in die jeweiligen Existenzen hinein – all ihre Träume und Visionen würde sie

gleichzeitig verwirklichen können! In ihren Augen glänzte Verzückung und ein schiefes Lächeln zog

sich diagonal über ihr Gesicht, wie es für den Rausch so typisch ist. So schaute sie die alte Frau an.

»Wie viele Leben stehen mir zur Verfügung?«

»Oh, so viele Sie wünschen, junge Frau!«

In Elisabeths Kopf entstand Tumult, die Vorschläge überschlugen sich. Ruhe! Ruhe! dachte sie

aufgeregt, eines nach dem anderen, die Reihenfolge sollte vorerst keine Rolle spielen.

»Ich wäre gern …« begann sie sich zu konzentrieren und geriet ins Stocken.

Was sollte sie als erstes nennen? Nun gut, das Ordnen würde sie später erledigen.

»Also, ich hätte gern …«

Eine Kardamon-Farm in Kokosnussland! Und eine Kaffee-Planatge in den Bergen und auch eine in

Afrika! Ein Leben mit der Wildnis, ja, mit der allgegenwärtigen Gefahr! Und sie wäre gern ein

Vagabund, namenlos an jedem Ort! Eine wilde Zigeunerin, die sang und tanzte, Flamenco in Spanien!

Medizinfrau in der weiten Prärie von Australien! Del nforscherin in der Karibik! Fischersfrau und

Mutter von fröhlichen Kindern auf einer kleinen Insel im Pazi k! Nonne in einem buddhistischen

Kloster! Reich und mächtig, und dann die Welt verändern …

Das hohe Fenster eines Erkerzimmers schlich ihr unvermittelt in den Sinn. Vor vielen Jahren war

es ihr in einer Kleinstadt an der Atlantikküste aufgefallen. Dort oben in dem Erkerzimmer sah sie

sich in einem Schaukelstuhl sitzen, mal mit Strickzeug mal mit einem Buch und zwischendurch auf

das Hauptsträßlein hinunterblicken. Es gab nicht viel zu sehen, jahraus, jahrein die gleiche Szenerie.

Immer dieselben Leute gingen in die eine oder die andere Richtung auf dem Weg zu ihren

Besorgungen und kamen wieder vorbei auf dem Nachhauseweg. Manchmal schlenderte ein Fremder


die Lädchen entlang. Keine P ichten stahlen ihr die Zeit, alle Stunden gehörten dem Sinn der

Nutzlosigkeit. Eine Haushälterin besorgte den Haushalt, ein Rechtsanwalt die nanziellen Dinge. Sie

war nicht übermäßig wohlhabend, doch hatte sie gerade reichlich, bequem und sorgenfrei zu leben.

Wunschlos war sie, weder glücklich noch traurig, denn dieses Erkerchen genügte ihr. Geheiratet

hatte sie nie, eine Ehe hätte sie abgelenkt von der gemütlichen Monotonie. Täglich stand sie zur

gleichen Stunde auf, das siebenmalige Schlagen der Kirchturmuhr begleitete ihre ersten Schritte am

frühen Morgen. Und abends ging sie zur gleichen Stunde zu Bett mit einer ausgewählten Lektüre.

Was sie auch tat, nichts und niemand durfte sie stören. Ihr Leben lang verbrachte sie ohne Freunde,

um unangenehme Begleiterscheinungen von vornherein auszuschließen, auch sonstige Aktivitäten

vermied sie weise. In einer Kleinstadt, wo nicht viel passierte, aus dem Erkerfenster im ersten Stock

den Wahnsinn der Welt betrachtend, völlig auf sich allein beschränkt, das fühlte sich sehr friedlich an

»Oh oh oh, das ist gefährlich!« sagte die alte Frau neben ihr und zerriss das Phantasiegewebe,

»Das ist gefährlich!« wiederholte sie, weil Elisabeth nicht reagierte – angewachsen auf dem

Schaukelstuhl in dem Erkerzimmer an der spanischen Atlantikküste.

»… gefährlich?« murmelte sie benommen, »Falle ich etwa aus dem Fenster?«

Die Alte lachte grell, um gleich darauf mit ernster Miene abrupt zu verstummen, als hätte jemand

an einem Knopf gedreht und sie in andere Stimmung versetzt. Dann üsterte sie mit

beschwörender Stimme:

»Weil Sie vielleicht nie mehr zurückkommen werden!«

Elisabeth lächelte, das klang verheißungsvoll, eine Androhung, die dennoch unerbittlich lockte.


Hunger nach Leben… (oder Wurzelnschlagen?) (Nr.1)


»Um Gotteswillen! Kind, überleg dir gut, was du da tust!«

Die Mutter war entsetzt, die Entschlossenheit der Tochter hatte sie erschreckt.

Sie machte ein weinerliches Gesicht, wie immer von der Tochter ignoriert.

Unbeeindruckt von mütterlichen Sorgen, ließ sie sich nicht überzeugen. Der Vater

unschlüssig daneben stehend, bestätigte die Bestürzung seiner Frau mit leerem

Gesicht und sagte nichts.

Was blieb der Mutter anderes übrig? Zum Abschied seufzte sie mit jammernder

Stimme:

»Versprich, wenn du nichts mehr zu essen hast, dann komm zu uns!«

Nora lachte, einundzwanzigjährig. Wie konnte ein Mensch in unschuldiger Jugend

an Hungerleiden denken! Ihr Mut, von den Erwachsenen unverstanden, wurde mit

Dummheit, Leichtsinn und Flausen interpretiert.

Nora von solchen Zweifeln unbelästigt, bastelte gerade an ihren ersten

Lebensentwürfen. Eine feste Anstellung mit regelmäßigem Einkommen war dafür

nicht vorgesehen. Sie wollte reisen und die Welt erkunden! Düstere Gedanken

anderer konnten sie nicht stören. Niemand sollte ihren Hunger nach Leben

bremsen, machtlos die Ängste der zivilisierten Welt, sie auf vertraute Bahnen der

Sicherheit zurückzulenken - jetzt, da sie begann, das Ruder selbst in die Hand zu

nehmen.

Natürlich war sie nicht vollends von Sinnen, wußte, daß Träume nanziert werden

müssen. Sie wollte ja nicht zu Fuß als Bettlerin die Welt durchwandern.

Zwischendurch, von der Welterkundung in die Heimat zurückgekehrt, würde sie

freilich arbeiten und Geld für weitere Pläne zusammensparen. Bis sie wieder

aufbrechen konnte, mit unbekanntem Ziel…

Ein freies Leben stellte sie sich vor!

Sie hörte nicht auf die Mutter, auch das leere Gesicht des Vaters blieb ohne

Wirkung. Sie hatte es kaum wahrgenommen, erinnerte sich erst Jahre später. Die

Eltern, eine undurchdringliche Front, fanden einfach keine Erklärung für die

seltsamen Ideen der volljährigen Tochter. Nora lachte arglos über sie hinweg.

Eltern sind nun mal so! Was wissen sie schon vom Leben? Sie dachte nicht weiter

darüber nach und machte sich eifrig auf den Weg.

Ohne sich zeitlich festzulegen und richtungsweisende Zäune in ferne Zukunft zu

projezieren, marschierte sie in ihr junges selbst bestimmtes Leben hinein,

angstlos, unabhängig, frei - und freute sich über jeden Schritt. Sie wollte nicht

weiter denken als bis zum nächsten, die Zukunft klang großartig im Reich des


Ungewissen. In der Heimat, so schien ihr, stand sie allein mit dieser Idee, doch

unterwegs dann fand sie Gleichgesinnte.

Im Laufe des Lebens hat sich ihre Erinnerung mit Eindrücken der Vielfalt gefüllt.

Auch das Hungerleiden lernte sie kennen, der Preis für solchen Hunger. Das Leiden

allerdings hielt sich erstaunlich in Grenzen, war es doch nur der Körper, der litt. Die

innerlichen Sinne, wie Fühlen und Denken, hingegen glücklich, freuten sich,

Erfahrungen mit Seltenheitswert zu sammeln. Ein Reichtum der anderen Art füllte

sie, vom Auge ungesehen, mit mächtigem Element.

Das Hungerleiden war nicht schlimm. Exkursionen in entlegene Winkel der Erde,

Urwälder und Wüsten entlohnten den Verzicht des Körpers. Das Leiden reduzierte

sich mit jedem Kilometer. Monatelang in der Fremde unterwegs, vergaß der Magen

leise, was er sonst zu Hause zu brauchen schien: Sauerkraut mit Wammerl,

Butterbrezn, Weißwurst mit süßem Senf und bayrischem Bier, Kartoffelknödel,

Mozzarella, Ziegenkäse und Parmaschinken, Nußhörnchen, Sarcletti-Eis, Prosecco

und Sherry, Spaghetti al dente mit Pesto und Parmesan, Cappuccino, Grappa,

italienischer Rotwein und schwarze Oliven, Amaretto und Kuchen und all die

deutsche Sicherheit… Und nicht zuletzt ein weiches Bett, ohne

Krabbelstechundzwickgetier.

Wenn nichts anderes vorhanden und der Magen leer ist, verspeist man

abenteuerlustig auch frisch gegrillte Riesenameisen - eine Delikatesse für manch

afrikanischen Gaumen. In Westafrika aß sie vorwiegend Puten-Popos, die es - dank

amerikanischer Ge ügelfabriken - in Massen dort gab und die sie außerodentlich

gern mochte. Auf den Philippinen schaufelte sie ahnungslos Hundegulasch und

Schlangensteaks in ihren Mund, einmal sogar Quallensuppe mit Seegurken-Einlage.

Und wer weiß, welche Tiere sie sonst noch vertilgte, was sie besser nie erfuhr. Bei

den Dogon in Mali lud man sie gastfreundlich zu selbst gebrautem Spuckebier ein.

Launischer Appetit und verwöhnte Geschmacksnerven zwar in höchste

Alarmbereitschaft dirigiert, überwand sie die panische Abwehr und kostete

vorsichtig von dem Gesöff - es sah aus wie schlammiges Schmutzwasser und

schmeckte ebenso danach. Die lachenden Gesichter der zierlichen Dogon zu

enttäuschen, hätte sie als das schlimmere Übel empfunden. Also trank sie mit

unerschrockener Miene den gebührenden Anstandsschluck und lernte die

Delikatesse dieses fremdartigen Völkchens kennen - wenngleich nicht lieben. In der

Sahara wurde sie beim Essen und Trinken von Fliegen-Geschwadern attackiert -

ständig platschte ein schwarzes Knäuel zappelnd und ügelschlagend in Eintopf

oder Bananenporridge. Beim Frühstück spielten sich besonders dramatische

Szenen ab, denn die zähe Porridgemasse verklebte Beinchen und Flügel - die

aufdringlichen Flieger starben in qualvollem Todeskampf an ihrer eigenen Gier. Ihr


grausamer Tod, für Nora kaum Triumph von Dauer, verdarb gehörig den Appetit.

Jeden Bissen mußte sie nach sterbenden Fliegen untersuchen, bevor sie ihn

hoffnungsvoll in den Mund zu schieben wagte. Auch an exotischen Krankheiten hat

sie gelitten. Auf einer tropischen Insel im Pazi k lag sie acht Tage an Dengi-Fieber

darnieder, süßes Delirium und verwirrtes Wachsein. Im Himalaya an Amöbenruhr

erkrankt, schleppte sie sich mit letzter Kraft nach Kadhmandu. In Indien wurde sie

von Würmern befallen. Überall lauerten Läuse und Wanzen, Kakerlaken,

Vogelspinnen und anderes Ungetier. In Afrika hatten Sand iegen ihre Eier unter

ihre Fußnägel eingenistet, sie hat sie dann - wie bei den Einheimischen üblich -

eigenhändig herausoperiert…

In den jeweiligen Ländern war das alles Normalität, jedoch zu Hause im sauberen

Deutschland, wenn sie davon berichtete, fanden es alle fürchterlich. Und sie? Sie

lachte. Es war nebensächlich und doch wichtig…

Jahre später, längst der Jugend entwachsen, verstummte der Drang, in die Ferne

zu schweifen. Zuerst nur ein wenig, unmerklich noch, dann immer lauter legte sich

Müdigkeit über sie. Sie wunderte sich.

Ständig an einem anderen Ort, überall eine Fremde! …und immer mehr in der

eigenen Heimat. Das Vagabundieren hinderte sie am Wurzelnschlagen. Sie begann

erst als ältere Frau zu ahnen, daß sie Wurzeln schlagen wollte! Aber wo? Die

Aufenthalte wurden länger an jedem Ort, auch dort, wo Heimat in ihren Pass

gestempelt ist.

An einem Tag wie jeder andere ging sie die Straße entlang. Beim Bäcker hatte sie

ein Nußhörnchen gekauft. Es lag jetzt in der Stofftasche auf den leeren Flaschen.

Rhythmisches Geklapper begleitete jeden Schritt, wie fröhlich. Sie warf sie in die

Container neben dem kleinen Park, Grünglas, Weißglas, Braunglas. Die Sonne

schien. Nora dachte: Auf der Bank dort drüben ist es sicherlich schön warm! Sie

lief an dem verlassenen Sandkasten vorbei über die feuchte Wiese, setzte sich auf

die Bank. Es war schön warm. Wie gut das tat nach dem langen Winter.

Menschenleer der kleine Park, als hätte sie es angeordnet, nur Zwitschen

versteckter Vögel, ein ganz normaler Wochentag, Kinder in Schule und

Kindergarten verwahrt, Erwachsene in der Arbeit. Nur sie in der kleinen grünen

Zelle der großen Stadt auf der warmen Bank. Das ge el ihr, die Welt ausgestorben

und sie als einzige übrig geblieben. Ihren Ohren entging das Motoren

vorbeifahrender Autos auf der Straße unweit entfernt, von dem vielen Grün auf

Bäumen und Boden regelrecht aufgesogen.

Das Gesicht den Sonnenstrahlen entgegengereckt, die Augen geschlossen, sah sie

die Feuermuster unter ihren Lidern. Irgendwann sprach eine Stimme sie an:

»Es ist bestimmt schön warm auf der Bank.«


»Ja.« antwortete Nora in die Sonne blinzelnd.

Eine alte Frau stand vor ihr, ein kurzes Zögern, dann setzte sie sich. Schweigendes

Baden in erwärmenden Sonnenstrahlen. Auf einmal fragte die Fremde:

»Sind sie zufrieden mit ihrem Leben?«

Nora riss die Augen auf, sprachlos, die Frage verblüffte, überforderte sie. Sie war

nicht zufrieden mit ihrem Leben! Aber auch nicht todunglücklich. Es el ihr schwer,

ja oder nein zu sagen. Sie hatte doch Augen im Kopf und sah das Leben der

anderen. Ihr erging es da noch am besten, fand sie, zumindest was die persönliche

Freiheit betrifft. Sie hatte kein Recht zur Klage. Doch zum Jubeln war ihr auch

nicht. Sie überlegte, lange. Bin ich zufrieden mit meinem Leben? Was konnte sie

darauf antworten, wenn sie ehrlich war?

Das Nußhörnchen in der Tasche el ihr ein. Plötzlich verspürte sie ungeheure Lust

hineinzubeißen. Der Gedanke steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Sie wollte

nicht warten, bis die alte Frau wieder gegangen ist, und das Nußhörnchen allein

neben ihr zu verspeisen, verdarb ihr den Genuß. Sie packte es aus, brach es in zwei

Teile, »Möchten sie ein Stück?«

Die alte Frau lächelte, »Oh, was für eine schöne Überraschung!« und nahm die

angebotene Hälfte entgegen.

»Sind sie zufrieden mit ihrem Leben?« fragte nun Nora.

»Mit welchem?« gab die alte Frau zurück, den Mund mit Nußhörnchen gefüllt.

Nora war irritiert. Was meinte sie damit?

»Im Augenblick bin ich sehr zufrieden.« fuhr die Alte fort. Sie tat einen neuen Biß

und während sie kaute, schaute sie ihr Gegenüber an, ein genießerischer Blick in

ihrem Gesicht.

»Wie gut das Nußhörnchen schmeckt!« sagte sie und die Freude in ihren Augen

verjüngte sie, »In einigen meiner anderen Leben kann ich mich nicht sonderlich an

derlei Dingen erfreuen, dort bin ich eine andere…«

Nora starrte sie an, staunend, stutzend, skeptisch. Ist sie verrückt? Was redet sie

bloß?

»Jetzt denken Sie sicherlich, ich bin verrückt!« lachte die Alte und Nora sah die

Nußhörnchenreste auf Zunge und Zähnen.

Sie verriet nichts von ihren Gedanken, die Fremde wußte sie ohnehin. Sie lachte

mit. Jetzt fand sie, die Alte war doch nicht verrückt. Ihr Reden machte sie

neugierig. Warum sagte sie solche Sachen? Wollte sie nur ein wenig Spaß mit ihr

treiben?

»Wieviele Leben leben denn sie?« stieg sie auf diese Geschichte ein.

»Oh, einige…«, die Alte hielt inne, überlegte, »momentan fünf, früher waren es

mehr gewesen.«


»Ihre Leben sind weniger geworden? Wie konnte das geschehen?«

Nora vergaß, wer sie war, fragte wie ein Kind, verschwendete keinen Gedanken

daran, ob das, was sie da sprachen, Unsinn ist. Im Augenblick war die Zensur ganz

auf den Verzehr des Nußhörnchens eingestellt, ohne Interesse, den Verstand zu

dirigieren.

»Ich glaube…« fuhr die Alte fort, »…das muß so sein, daß sich die Leben

reduzieren. Es war meine eigene Entscheidung, es ist mir einfach zuviel geworden.

Einige Leben stellten sich in der Praxis als äußerst fad und langweilig und

unbrauchbar heraus…«

Sie brach mitten im Reden ab, schien in Nora‘s Gesicht etwas zu entdecken.

Verunsichert musterte Nora sie. Habe ich Krümel auf der Nase?

»Nun, junge Frau…« begann die Alte, ihr Tonfall wie der einer Mutter, die ihr Kind

auf frischer Tat ertappt, »seien Sie mal ehrlich, welche Leben würden Sie gern

leben, wenn es möglich wäre?«

Das war es! Nora spürte, wie die Worte ins Schwarze trafen. Seit sie denken

konnte, stellte sie sich vor, verschiedene Leben parallel zu leben. Und sie eine

Springerin sprang je nach Stimmung in die jeweiligen Existenzen hinein, würde all

ihre Träume und Visionen verwirklichen…

Sie lächelte.

»Wieviele Leben stehen mir zur Verfügung?«

»Soviel Sie wünschen, junge Frau!«

In Nora‘s Kopf entstand Tumult, die Vorschläge überstürzten sich. Ruhe! Ruhe!

dachte sie, eins nach dem anderen, die Reihenfolge ist egal.

Ich wäre gern… Sie konzentrierte sich. Was sollte sie als erstes nennen? Die

Reihenfolge ist egal! Nun gut, die Ordnung würde sie später vornehmen. Das

Gedränge der Wünsche nahm überhand, nur mit Mühe konnte sie den Stimmen

folgen.

…Ich hätte gern eine Kardamon-Farm in Kerala! Ich will eine Farm in Afrika, ein

Leben mit der Wildnis, mit der Gefahr! Ich wäre gern Vagabund, jedes Jahr an

einem anderen Ort! Ich eine Sängerin bei den Zigeunern, am liebsten in Spanien! Ich

möchte Medizinfrau sein in der weiten Prärie von Australien! Ich Del nforscherin in

der Karibik! Ich eine Fischersfrau und Mutter von fröhlichen Kindern auf einer

kleinen Insel im Pazi k! Ich eine Nonne in einem buddhistischen Kloster! Ich eine

Tänzerin in Paris! Ich reich und mächtig, um die Welt zu verbessern…

Aus dem Chaos der Wünsche tauchte das hohe Fenster eines Erkerzimmers auf…

Nora erkannte das Haus an der kleinen Kreuzung, es war ihr vor vielen Jahren in

einer Kleinstadt an der spanischen Atlantikküste aufgefallen - wegen dieses

Erkerzimmers mit den hohen Fenstern. Nur ein Schaukelstuhl hatte darin Platz.


Nun sah sie sich dort oben sitzen, mit Strickzeug, mit einem Buch und

zwischendurch auf die zwei Hauptsträßlein hinunterblicken… Es gibt nicht viel zu

sehen, der Verkehr schläfrig, wie alles hier. Jahr aus, Jahr ein kaum Veränderung.

Immer dieselben Gesichter, Menschen dieses Ortes, die in die eine oder andere

Richtung gehen, und danach kommen sie wieder heim. Sie werden nur ein wenig

älter dabei. Manchmal schlendert ein Fremder die Lädchen entlang. Niemand blickt

nach oben zum Erkerfenster, wo sie sitzt und schaut. Es kümmert sie nicht, sie

genießt es, ungesehene Beobachterin zu sein. Nicht der leiseste Impuls rührt sie

auf, mitzureden, mitzumachen, hier und dazu etwas zu sagen, gar zu protestieren

oder irgendetwas besser zu wissen. Ihre Augen sehen alles gleich, das Schöne und

das Nichtschöne. Keine P ichten stehlen ihr die Zeit, vierundzwanzig Stunden der

reinen Nutzlosigkeit. Sie ist nicht übermäßig reich, hat gerade genug, bequem und

sorgenfrei zu leben. Eine freundliche Haushälterin besorgt den Haushalt, ein

vertrauenswürdiger Rechtsanwalt die nanziellen Dinge. Wunschlos ist sie, weder

glücklich noch traurig - dieses Erkerchen allein genügt ihr mit dem Blick aus dem

Fenster. Zufrieden ist sie, hat sich nie verehelicht, ein Mann an ihrer Seite hätte sie

nur abgelenkt von der gemütlichen Eintönigkeit… Täglich erwacht sie zur gleichen

Stunde, das siebenmalige Schlagen der Kirchturmuhr begleitet ihre ersten Schritte

am Morgen, und abends geht sie mit einem Buch früh zu Bett. Ein Leben lang

Ungestörtheit ohne Freunde und sonstige Aktivitäten, in einer Kleinstadt, wo nicht

viel passiert. Nur aus dem Erkerfenster im ersten Stock die Welt betrachten, ganz

auf sich allein beschränkt…Wie friedlich sich das anfühlt…

»Oh, das ist gefährlich!« Die Stimme der alten Frau schreckte Nora auf, sie hatte

sie völlig vergessen.

»Das ist gefährlich!« wiederholte die Alte, weil Nora nicht reagierte, eingefroren

auf dem Schaukelstuhl in dem Erkerzimmer an der spanischen Atlantikküste.

»Gefährlich?« sagte Nora leise vor sich hin, »Falle ich etwa aus dem Fenster?«

Die Alte lachte auf und verstummte im nächsten Moment mit ernstem Gesicht, als

hätte jemand an einem Knopf gedreht und sie in andere Stimmung versetzt. Sie

öffnete ihren Mund mit eindringlichem Blick und üsterte:

»…weil sie vielleicht nicht mehr zurückkommen werden!«

Eine Weile verstrich. Die alte Frau war gegangen. Nora allein auf der Bank im

kleinen Park in der großen Stadt, sie spürte die Wärme des Holzes an der

Unterseite ihrer Schenkel, unter ihrem Gesäß… Ihr Steiss, einer spitzen Nadel

gleich zog die Wärme aus der Bank durch sie hindurch nach oben und trat durch

ihren Scheitel auf das Sonnenlicht… Eine Stimme drang in ihr Ohr, doch diesmal

von innen heraus, und das Echo verstummte nicht:

»Wurzeln schlagen will ich und nie wieder zurückkommen…«


Hunger nach Leben… (oder Wurzelnschlagen?) (Nr.2)


»Um Gotteswillen! Kind, überleg dir gut, was du da tust!«

Die Mutter entsetzt über die Entschlossenheit der Tochter, machte ein

weinerliches Gesicht, wie immer von der Tochter ignoriert. Mütterliche Sorgen

irritierten sie nicht. Der Vater unschlüssig daneben stehend, bestätigte die

Bestürzung seiner Frau mit leerem Gesicht und sagte nichts.

Was blieb der Mutter anderes übrig? Zum Abschied seufzte sie mit jammernder

Stimme:

»Kind, versprich, wenn du nichts mehr zu essen hast, dann komm zu uns!«

Nora lachte, einundzwanzigjährig. Wie konnte ein Mensch in unschuldiger Jugend

an Hungerleiden denken! Von solchen Zweifeln unbelästigt, bastelte sie gerade an

ihren ersten Lebensentwürfen. Sie wollte reisen und die Welt erkunden! Düstere

Gedanken anderer konnten sie nicht zu stören, niemand ihren Hunger nach Leben

bremsen. Machtlos die Ängste der zivilisierten Welt, sie auf vertraute Bahnen der

Sicherheit zurückzulenken - jetzt, da sie begann, das Ruder selbst in die Hand zu

nehmen.

Natürlich war sie nicht vollends von Sinnen, wußte sehr wohl, daß Träume

nanziert werden müssen. Sie wollte ja nicht zu Fuß als Bettlerin die Welt

durchwandern. Zwischendurch, von der Welterkundung in die Heimat

zurückgekehrt, würde sie freilich arbeiten und Geld für weitere Pläne

zusammensparen.

Ein freies Leben stellte sie sich vor! Sie hörte nicht auf die Mutter, auch das leere

Gesicht des Vaters blieb ohne Wirkung. Sie hatte es kaum wahrgenommen,

erinnerte sich erst Jahre später. Nora lachte arglos über sie hinweg. Eltern sind

nun mal so! Was wissen sie schon vom Leben? So dachte sie und machte sich

eifrig auf den Weg.

Ohne sich zeitlich festzulegen, ohne richtungsweisende Zäune in ferne Zukunft zu

projezieren, marschierte sie in ihr junges selbst bestimmtes Leben hinein,

angstlos, unabhängig, frei - und freute sich über jeden Schritt. Sie wollte nicht

weiter denken als bis zum nächsten, die Zukunft klang großartig im Reich des

Ungewissen. In der Heimat, so schien ihr, stand sie allein mit dieser Idee, doch

unterwegs fand sie Gleichgesinnte.

Im Laufe des Lebens hat sich ihre Erinnerung von der Vielfalt ernährt. Auch das

Hungerleiden lernte sie kennen, der Preis für solchen Hunger. Das Leiden allerdings

hielt sich erstaunlich in Grenzen, war es doch nur der Körper, der litt. Die

innerlichen Sinne, wie Fühlen und Denken, hingegen glücklich, freuten sich,


Erfahrungen mit Seltenheitswert zu sammeln. Ein Reichtum der anderen Art füllte

sie, vom Auge ungesehen, mit mächtigem Element.

Das Hungerleiden war nicht schlimm. Die Eindrücke der Exkursionen in kaum

besuchte Winkel der Erde entlohnten den Verzicht des Körpers. Das Leiden

reduzierte sich mit jedem Kilometer. Nach Monaten in der Fremde vergaß der

Magen leise, was er sonst zu Hause zu brauchen schien: Sauerkraut mit Wammerl,

Butterbrezn, Weißwurst mit süßem Senf und bayrischem Bier, Kartoffelknödel,

Mozzarella, Ziegenkäse und Parmaschinken, Nußhörnchen, Sarcletti-Eis, Prosecco

und Sherry, Spaghetti al dente mit Pesto und Parmesan, Cappuccino, Grappa,

italienischer Rotwein und schwarze Oliven, Amaretto und Kuchen und all die

deutsche Sicherheit… Und nicht zuletzt ein weiches Bett, ohne

Krabbelstechundzwickgetier.

Wenn nichts anderes vorhanden und der Magen leer ist, verspeist man

abenteuerlustig auch frisch gegrillte Riesenameisen - eine Delikatesse für manch

afrikanischen Gaumen. In Westafrika aß sie vorwiegend Puten-Popos, die es - dank

amerikanischer Ge ügelfabriken - in Massen dort gab und die sie außerodentlich

gern mochte. Auf den Philippinen schaufelte sie ahnungslos Hundegulasch und

Schlangensteaks in ihren Mund, einmal sogar Quallensuppe mit Seegurken-Einlage.

Wer weiß, welche Tiere sie sonst noch vertilgte, was sie besser nie erfuhr. Bei den

Dogon in Mali lud man sie gastfreundlich zu selbst gebrautem Spuckebier ein. Sie

überwand die panische Abwehr und kostete vorsichtig von dem Gesöff - es sah

aus wie schlammiges Schmutzwasser und schmeckte ebenso. Die lachenden

Gesichter der zierlichen Dogon zu enttäuschen, hätte sie als das schlimmere Übel

empfunden. Also trank sie den gebührenden Anstandsschluck und lernte die

Delikatesse dieses fremdartigen Völkchens kennen. In der Sahara wurde sie beim

Essen und Trinken von Fliegen-Geschwadern attackiert - ständig platschte ein

schwarzes Knäuel zappelnd und ügelschlagend in den Eintopf. Beim Frühstück

spielten sich besonders dramatische Szenen ab, denn die zähe Porridgemasse

verklebte Beinchen und Flügel - die aufdringlichen Flieger starben in qualvollem

Todeskampf an ihrer eigenen Gier. Ihr grausamer Tod für Nora kaum Triumph von

Dauer - jeden Bissen nach sterbenden Fliegen zu untersuchen, bevor man ihn in

den Mund zu schieben wagt, verdarb gehörig den Appetit. Auch an exotischen

Krankheiten hat sie gelitten. Auf einer tropischen Insel im Pazi k lag sie an Dengi-

Fieber darnieder, süßes Delirium, verwirrtes Wachsein. Im Himalaya an Amöbenruhr

erkrankt, schleppte sie sich mit letzter Kraft nach Kadhmandu. In Indien wurde sie

von Würmern befallen. Überall lauerten Läuse und Wanzen, Kakerlaken,

Vogelspinnen und anderes Ungetier. In Afrika hatten Sand iegen ihre Eier unter


ihre Fußnägel eingenistet, sie hat sie dann - wie bei den Einheimischen üblich -

eigenhändig herausoperiert…

Das war alles Normalität in der Fremde, jedoch zu Hause im sauberen Deutschland,

wenn sie davon berichtete, fanden es alle fürchterlich. Und sie? Sie lachte. Es war

nebensächlich und doch wichtig…

Jahre später, längst der Jugend entglitten, verstummte der Drang, in die Ferne zu

schweifen. Zuerst nur ein wenig, unmerklich noch, dann immer lauter legte sich

Müdigkeit über sie. Ständig an einem anderen Ort, überall eine Fremde! …und

immer mehr in der eigenen Heimat. Das Vagabundieren hinderte sie am

Wurzelnschlagen. Die Aufenthalte wurden länger an jedem Ort, auch dort, wo

Heimat in ihren Pass gestempelt war.

An einem Tag wie jeder andere ging sie die Straße entlang. Beim Bäcker hatte sie

ein Nußhörnchen gekauft. Es lag jetzt in der Stofftasche auf den leeren Flaschen.

Rhythmisches Klappern begleitete jeden Schritt, wie fröhlich. Sie warf sie in die

Container neben dem kleinen Park, Grünglas, Weißglas, Braunglas. Die Sonne

schien. Nora dachte: Auf der Bank dort drüben ist es sicherlich schön warm! Sie

lief an dem verlassenen Sandkasten vorbei über die feuchte Wiese, setzte sich auf

die Bank. Es war schön warm. Wie gut das tat nach dem langen deutschen Winter.

Menschenleer der kleine Park, als hätte sie es angeordnet. Ihren Ohren entging das

Motoren vorbeifahrender Autos auf der Straße unweit entfernt, von dem vielen

Grün auf Bäumen und Boden regelrecht aufgesogen. Zwitschern versteckter Vögel,

ein ganz normaler Wochentag, Kinder in Schule und Kindergarten verwahrt,

Erwachsene in der Arbeit. Nur sie in der kleinen grünen Zelle der großen Stadt auf

der warmen Bank. Das ge el ihr, die Welt ausgestorben und sie als einzige übrig

geblieben.

Das Gesicht den Sonnenstrahlen entgegengereckt, die Augen geschlossen,

Feuermuster unter ihren Lidern. Irgendwann sprach eine Stimme sie an:

»Es ist bestimmt schön warm auf der Bank.«

»Ja.« antwortete Nora in die Sonne blinzelnd.

Eine alte Frau stand vor ihr, ein kurzes Zögern, dann setzte sie sich. Schweigendes

Baden in wärmenden Sonnenstrahlen. Auf einmal fragte die Fremde:

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?«

Nora riss die Augen auf, sprachlos, die Frage verblüffte, überforderte sie.

Sie war nicht zufrieden mit ihrem Leben! Aber auch nicht todunglücklich. Es el ihr

schwer, ja oder nein zu sagen. Sie hatte doch Augen im Kopf und sah das Leben

der anderen. Ihr erging es da noch am besten, fand sie, zumindest was die

persönliche Freiheit betrifft. Sie hatte kein Recht zur Klage. Doch zum Jubeln war

ihr auch nicht.


Was konnte sie antworten, wenn sie ehrlich war?

Das Nußhörnchen in der Tasche el ihr ein. Plötzlich verspürte sie ungeheure Lust

hineinzubeißen. Zu warten, bis die alte Frau gegangen ist, erschien ihr unerträglich,

das Nußhörnchen allein zu verspeisen, ebenso. Sie packte es aus, brach es in zwei

Teile, »Möchten Sie ein Stück?«

Die alte Frau lächelte, »Oh, was für eine schöne Überraschung!« und nahm die

angebotene Hälfte entgegen.

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?« fragte nun Nora.

»Mit welchem?« gab die alte Frau mit vollem Mund zurück.

Nora war irritiert. Was meinte sie damit?

»Im Augenblick bin ich sehr zufrieden.« fuhr die Alte fort und tat einen neuen Biß,

»Wie gut das Nußhörnchen schmeckt!« Die Freude in ihren Augen verjüngte sie, »In

manchen Leben konnte ich mich nicht an derlei Dingen erfreuen, dort war ich eine

andere…«

Nora starrte sie an. Ist sie verrückt? Was redet sie bloß?

»Jetzt denken Sie sicherlich, ich bin verrückt!« lachte die Alte und Nora sah die

Nußhörnchenreste auf Zunge und Zähnen.

Sie lachte mit. Jetzt fand sie, die Alte war doch nicht verrückt. Ihr Reden machte

sie neugierig.

»Wieviele Leben leben Sie denn?« stieg sie auf diese Geschichte ein.

»Oh, einige…«, die Alte hielt inne, überlegte, »momentan fünf, früher waren es

mehr gewesen.«

»Ihre Leben sind weniger geworden? Wie konnte das geschehen?«

Nora vergaß, wer sie war, ob das, was sie da sprachen, Unsinn war. Im Augenblick

war die Zensur mit dem Verzehr des Nußhörnchens beschäftigt.

»Ich glaube…« fuhr die Alte fort, »…das muß so sein, daß sich die Leben

reduzieren. Es war meine eigene Entscheidung, ist mir einfach zuviel geworden.

Einige Leben stellten sich in der Praxis als äußerst unbrauchbar heraus…«

Unvermittelt brach sie ab, schien in Nora‘s Gesicht etwas zu entdecken.

»Nun, junge Frau…« begann die Alte, ihr Tonfall wie der einer Mutter, die ihr Kind

durchschaut, »seien Sie mal ehrlich, welche Leben würden Sie gern leben, wenn Sie

könnten?«

Das war es! Nora spürte, wie die Worte ins Schwarze trafen. Seit sie denken

konnte, stellte sie sich vor, verschiedene Leben parallel zu leben. Und sie eine

Springerin sprang je nach Stimmung in die jeweiligen Existenzen hinein, würde all

ihre Träume und Visionen verwirklichen…

Sie lächelte.

»Wieviele Leben stehen mir zur Verfügung?«


»Soviel Sie wünschen, junge Frau!«

In Nora‘s Kopf entstand Tumult, die Vorschläge überstürzten sich. Ruhe! Ruhe!

dachte sie, eins nach dem anderen, die Reihenfolge ist egal.

Ich wäre gern… Das Gedränge der Wünsche nahm überhand, mit Mühe konnte sie

den Stimmen folgen.

…Ich hätte gern eine Kardamon-Farm in Kerala! Ich will eine Farm in Afrika, ein

Leben mit der Wildnis, mit der Gefahr! Ich wäre gern Vagabund, namenlos an

fremdem Ort! Eine Sängerin bei den Zigeunern! Ich möchte Medizinfrau sein in der

weiten Prärie von Australien! Ich Del nforscherin in der Karibik! Eine Fischersfrau,

Mutter von fröhlichen Kindern auf einer Insel im Pazi k! Nonne in einem

buddhistischen Kloster! Tänzerin in Paris! Reich und mächtig, um die Welt zu

ändern…

Aus dem Chaos der Wünsche tauchte das hohe Fenster eines Erkerzimmers auf…

Nora erkannte das Haus an der kleinen Kreuzung, es war ihr vor vielen Jahren in

einer Kleinstadt an der spanischen Atlantikküste aufgefallen - wegen dieses

einzigen Erkerzimmers mit dem hohen Fenster. Nur ein Schaukelstuhl hatte darin

Platz. Nun sah sie sich dort oben sitzen, mit Strickzeug, mit einem Buch und

gelegentlich hinunterblicken… Es gibt nicht viel zu sehen, der Verkehr schläfrig,

wie alles hier. Jahr aus, Jahr ein kaum Veränderung. Immer dieselben Gesichter,

Menschen, die in die eine oder andere Richtung gehen, und danach kommen sie

wieder heim. Sie werden nur ein wenig älter dabei. Manchmal schlendert ein

Fremder die Lädchen entlang. Niemand blickt nach oben zum Erkerfenster, wo sie

sitzt und schaut. Es kümmert sie nicht, genießt ungesehene Beobachterin zu sein.

Kein Impuls rührt sie auf, mitzureden, mitzumachen, hier und dazu etwas zu

meinen, gar zu protestieren oder irgendetwas besser zu wissen. Ihre Augen sehen

alles gleich, das Schöne und das Nichtschöne. Keine P ichten stehlen ihr die Zeit,

vierundzwanzig Stunden der reinen Nutzlosigkeit. Sie ist nicht übermäßig reich, hat

gerade genug, bequem und sorgenfrei zu leben. Eine freundliche Haushälterin

besorgt den Haushalt, ein vertrauenswürdiger Rechtsanwalt die

nanzielle

Angelegenheit. Wunschlos ist sie, weder glücklich noch traurig - dieses Erkerchen

mit dem Blick aus dem Fenster ist ihr genug. Sie hat sich nie verehelicht, ein Mann

an ihrer Seite hätte sie nur abgelenkt von der gemütlichen Eintönigkeit. Täglich der

gleiche Rhythmus, ungestörtes Dasein ohne Freunde und Aktivitäten, ganz auf sich

allein beschränkt aus dem Erkerfenster im ersten Stock die Welt betrachten… Wie

friedlich sich das anfühlt…

»Oh, das ist gefährlich!« Die Stimme der alten Frau schreckte Nora auf.

»Das ist gefährlich!« wiederholte die Alte, weil Nora nicht reagierte, eingefroren

auf dem Schaukelstuhl in dem Erkerzimmer an der spanischen Atlantikküste.


»Gefährlich?« sagte Nora leise vor sich hin, »Falle ich etwa aus dem Fenster?«

Die Alte lachte auf und verstummte im nächsten Moment mit ernstem Gesicht,

üsterte:

»…weil sie vielleicht nicht mehr zurückkommen werden!«

Eine Weile verstrich. Die alte Frau war gegangen. Nora allein auf der Bank im

kleinen Park in der großen Stadt, spürte die Wärme des Holzes an der Unterseite

ihrer Schenkel, unter ihrem Gesäß… Ihr Steiss, einer spitzen Nadel gleich zog die

Wärme aus der Bank durch sie hindurch nach oben und trat durch ihren Scheitel

auf das Sonnenlicht… Eine Stimme in ihrem Ohr kam diesmal von innen heraus, das

Echo verstummte nicht:

»Wurzeln schlagen will ich und nie wieder zurückkommen…«


Hunger nach Leben… (oder Wurzelnschlagen?) (Nr.3)


Die Mutter entsetzt über die Entschlossenheit der Tochter, machte ein

weinerliches Gesicht, wie immer von der Tochter ignoriert. Mütterliche Sorgen

irritierten sie nicht. Der Vater unschlüssig daneben mit leerem Gesicht, sagte

nichts.

Was blieb der Mutter sonst übrig? Zum Abschied seufzte sie:

»Kind, versprich, wenn du nichts mehr zu essen hast, dann komm zu uns!«

Nora lachte, einundzwanzigjährig. Wie konnte ein Mensch in unschuldiger Jugend

an Hungerleiden denken! Von derart Zweifeln unbelästigt, bastelte sie gerade am

Entwurf ihrer ersten eigenen Lebensschritte. Sie wollte reisen und die Welt

erkunden! Düstere Gedanken anderer durften sie nicht zu stören, niemand ihren

Hunger nach Leben bremsen. Machtlos die Ängste der zivilisierten Braven, sie auf

vertraute Bahnen der Sicherheit zurückzulenken - jetzt, da sie begann, das Ruder

selbst in die Hand zu nehmen.

Ein freies Leben stellte sie sich vor! Sie hörte nicht auf die Mutter, das leere

Gesicht des Vaters blieb ohne Wirkung - sie hatte es kaum wahrgenommen,

erinnerte sich erst Jahre später.

Keine Projektionen von Zäunen in ferner Zukunft, sich zeitlich festzuknebeln - so

marschierte sie in ihr junges selbst bestimmtes Leben hinein, angstlos,

unabhängig, frei… freute sich über jeden Schritt, wollte nicht weiter denken als bis

zum nächsten. Die Zukunft! klang großartig im Reich des Ungewissen.

In der Heimat, so schien ihr, stand sie allein mit ihrer Idee, doch unterwegs traf sie

Gleichgesinnte.

So hat die Zeit ihr Leben gekürzt, Vielfalt ihre Erinnerung ernährt. Auch das

Hungerleiden lernte sie kennen, der Preis für solchen Hunger. Das Leiden allerdings

hielt sich erstaunlich in Grenzen, war es doch nur der Körper, der litt. Die

innerlichen Sinne, wie Fühlen und Denken, hingegen glücklich, freuten sich über

Erfahrungen mit Seltenheitswert.

Das Hungerleiden war nicht schlimm. Die Eindrücke der Fremde entlohnten den

Verzicht des Körpers. Das Leiden reduzierte sich mit jedem Kilometer, mit jedem

Monat. Der Magen vergaß, was er sonst zu Hause zu brauchen schien. Wenn nichts

anderes vorhanden, aber Hunger da ist, verspeist man abenteuerlustig auch frisch

gegrillte Riesenameisen, ebenso Hundegulasch und Schlangensteaks, Quallensuppe

mit Seegurken-Einlage…

Bei den Dogon in Mali lud man sie gastfreundlich zu selbst gebrautem Spucke-Bier

ein. In der Sahara wurde sie beim Essen und Trinken von Fliegen-Geschwadern

attackiert - jeden Bissen nach sterbenden Kreaturen zu untersuchen, bevor man


ihn in den Mund zu schieben wagt, verdarb gehörig den Appetit. Auch an

exotischen Krankheiten hat sie gelitten…

Das war alles Normalität in der Fremde, jedoch zu Hause im sauberen Deutschland,

wenn sie davon berichtete, fanden es alle fürchterlich. Und sie? Sie lachte. Es war

nebensächlich und doch wichtig…

Irgendwann, längst der Jugend entglitten, verstummte der Ruf aus der Ferne.

Unmerklich erst, dann immer deutlicher legte sich Müdigkeit über sie. Ständig an

einem anderen Ort, überall eine Fremde! …zusehends mehr in der eigenen Heimat.

Das Vagabundieren hinderte sie am Wurzelnschlagen. Die Aufenthalte wurden

länger, auch dort, wo Heimat in ihren Pass gestempelt war.

An einem Tag wie jeder andere ging sie die Straße entlang. Beim Bäcker hatte sie

ein Nußhörnchen gekauft. Es lag jetzt in der Stofftasche auf den leeren Flaschen.

Rhythmisches Klappern bei jedem Schritt, wie fröhlich. Sie warf sie in die Container

neben dem kleinen Park, Grünglas, Weißglas, Braunglas. Die Sonne schien. Nora

dachte: Auf der Bank dort drüben ist es sicherlich schön warm! Sie lief an dem

verlassenen Sandkasten vorbei über die feuchte Wiese, setzte sich auf die Bank.

Es war schön warm. Wie gut das tat nach dem langen deutschen Winter.

Menschenleer der kleine Park, als hätte sie es angeordnet. Ihren Ohren entging das

Motoren vorbeifahrender Autos auf der Straße unweit entfernt, von dem vielen

Grün auf Bäumen und Boden regelrecht aufgesogen. Zwitschern versteckter Vögel,

ein ganz normaler Wochentag, Kinder in Schule und Kindergarten verwahrt,

Erwachsene in der Arbeit. Nur sie in der kleinen grünen Zelle der großen Stadt auf

der warmen Bank. Das ge el ihr, die Welt ausgestorben und sie als einzige übrig

geblieben.

Das Gesicht in die Sonnenstrahlen gereckt, die Augen zu, tanzende Feuermuster

unter ihren Lidern. Irgendwann sprach eine Stimme sie an:

»Es ist bestimmt schön warm auf der Bank.«

»Ja.« antwortete Nora in die Sonne blinzelnd.

Eine alte Frau stand vor ihr - kurzes Zögern, dann setzte sie sich.

Schweigendes Baden in wärmenden Sonnenstrahlen.

Auf einmal fragte die Fremde in die Stille:

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?«

Nora riss die Augen auf, sprachlos, die Frage verblüffte, überforderte sie.

Sie war nicht zufrieden mit ihrem Leben! Aber auch nicht todunglücklich. Es el ihr

schwer, ja oder nein zu sagen. Sie hatte doch Augen im Kopf und sah das Leben

der anderen. Sie hatte kein Recht zur Klage. Doch zum Jubeln war ihr

ebensowenig.

Was konnte sie antworten, wenn sie ehrlich war?


Das Nußhörnchen in der Tasche el ihr ein. Plötzlich verspürte sie ungeheure Lust

hineinzubeißen. Warten, bis die alte Frau gegangen ist? Das Nußhörnchen allein

verspeisen? Beides erschien ihr unerträglich. Sie packte es aus, brach es in zwei

Teile, »Möchten Sie ein Stück?«

Die alte Frau nahm die Hälfte erfreut entgegen.

Nun setzte Nora zu der Frage an, die sie selbst nicht beantworten konnte:

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?«

»Mit welchem?« gab die alte Frau mit vollem Mund zurück.

Nora irritiert, was meinte sie damit?

»Im Augenblick bin ich sehr zufrieden.« fuhr die Alte fort und tat einen neuen Biß,

»Wie gut das Nußhörnchen schmeckt!« Die Freude in ihren Augen verjüngte sie, »In

manchen Leben konnte ich mich nicht an derlei Dingen erfreuen, dort war ich eine

andere…«

Nora starrte sie an. Ist sie verrückt? Was redet sie bloß?

»Jetzt denken Sie sicherlich, ich bin verrückt!« lachte die Alte und Nora sah die

Nußhörnchenreste auf Zunge und Zähnen.

Sie lachte mit. Jetzt fand sie, die Alte war doch nicht verrückt. Ihr Reden machte

sie neugierig.

»Wieviele Leben leben Sie denn?« stieg sie auf diese Geschichte ein.

»Oh, einige…«, die Alte hielt inne, überlegte, »momentan fünf, früher waren es

mehr gewesen.«

»Ihre Leben sind weniger geworden? Wie konnte das geschehen?«

»Ich glaube…« fuhr die Alte fort, »…das muß so sein, daß sich die Leben

reduzieren. Es war meine eigene Entscheidung, ist mir einfach zuviel geworden.

Einige Leben stellten sich in der Praxis als äußerst unbrauchbar heraus…«

Unvermittelt brach sie ab, schien in Nora‘s Gesicht etwas zu entdecken.

»Nun, junge Frau…« begann die Alte, ihr Tonfall wie der einer Mutter, die ihr Kind

durchschaut, »seien Sie mal ehrlich, welche Leben würden Sie gern leben, wenn Sie

könnten?«

Das war es! Nora spürte, wie die Worte ins Schwarze trafen. Seit sie denken

konnte, stellte sie sich vor, verschiedene Leben parallel zu leben. Und sie eine

Springerin sprang je nach Stimmung in die jeweiligen Existenzen hinein…

All ihre Träume und Visionen würde sie verwirklichen können!

Sie lächelte, »Wieviele Leben stehen mir zur Verfügung?«

»Soviel Sie wünschen, junge Frau!«

In Nora‘s Kopf entstand Tumult, die Vorschläge überstürzten sich, das Gedränge

der Wünsche nahm überhand, mit Mühe konnte sie den vielen Stimmen folgen.


…eine Kardamon-Farm in Kerala! Eine Farm in Afrika! Ein Leben mit der Wildnis! Mit

der Gefahr! Ein Vagabund, namenlos an fremdem Ort! Eine Sängerin bei den

Zigeunern! Medizinfrau in der australischen Prärie! Del nforscherin in der Karibik!

Eine Fischersfrau, Mutter von fröhlichen Kindern auf einer Insel im Pazi k! Nonne in

einem buddhistischen Kloster! Tänzerin in Paris! Reich und mächtig, um die Welt zu

verändern…

Aus dem Chaos der Wünsche tauchte das hohe Fenster eines Erkerzimmers auf…

Nora erkannte das Haus an der kleinen Kreuzung. Es war ihr vor vielen Jahren in

einer Kleinstadt an der spanischen Atlantikküste aufgefallen - wegen dieses

Erkerzimmers mit dem hohen Fenster. Nur ein Schaukelstuhl hatte darin Platz. Nun

sah sie sich dort oben sitzen, mit Strickzeug, mit einem Buch und gelegentlich

hinunterblicken… Es gibt nicht viel zu sehen, der Verkehr schläfrig, wie alles hier.

Jahr aus, Jahr ein kaum Veränderung. Immer dieselben Gesichter. Menschen, die in

die eine oder andere Richtung gehen, und danach kommen sie wieder heim. Sie

werden nur ein wenig älter dabei. Manchmal schlendert ein Fremder die Lädchen

entlang. Niemand blickt nach oben zum Erkerfenster. Es kümmert sie nicht,

genießt, ungesehene Beobachterin zu sein. Kein Impuls rührt sie auf, mitzureden,

mitzumachen, hier und dazu etwas zu meinen, zu wollen, gar zu protestieren oder

irgendetwas besser zu wissen. Ihre Augen sehen alles gleich, das Schöne und das

Nichtschöne. Keine P ichten stehlen ihr die Zeit, vierundzwanzig Stunden der

reinen Nutzlosigkeit. Sie ist nicht übermäßig reich, hat gerade genug, bequem und

sorgenfrei zu leben. Eine freundliche Haushälterin besorgt den Haushalt, ein

vertrauenswürdiger Rechtsanwalt die nanzielle Angelegenheit. Wunschlos ist sie,

weder glücklich noch traurig - dieser Erkerblick ist ihr genug. Nie hat sie sich

verehelicht, ein Mann an ihrer Seite hätte ihre gemütliche Eintönigkeit nur gestört.

Täglich gleicher Rhythmus, ungestörtes Dasein! Auf sich allein beschränkt aus dem

Erkerfenster im ersten Stock die Welt betrachten… Wie friedlich sich das anfühlt…

»Oh, das ist gefährlich!« Die Stimme der alten Frau schreckte Nora auf.

»Das ist gefährlich!« wiederholte die Alte.

Nora eingefroren auf dem Schaukelstuhl in dem Erkerzimmer an der spanischen

Atlantikküste.

»Gefährlich?« murmelte sie vor sich hin, »Falle ich etwa aus dem Fenster?«

Die Alte lachte auf. Und verstummte im nächsten Augenblick mit ernstem Gesicht,

üsterte: »…weil sie vielleicht nicht mehr zurückkommen werden!«

Eine Weile verstrich. Die alte Frau war nicht mehr hier. Nora allein auf der Bank im

kleinen Park in der großen Stadt. Sie spürte die Wärme des Holzes an der

Unterseite ihrer Schenkel, unter ihrem Gesäß… Ihr Steiss, einer spitzen Nadel

gleich zog die Wärme aus der Bank durch sie hindurch nach oben und trat durch


ihren Scheitel auf das Sonnenlicht… Eine Stimme in ihrem Ohr kam diesmal von

innen hervor, das Echo verstummte nicht:

»Wurzeln schlagen will ich und nie wieder zurückkommen…«


Hunger nach Leben… (Nr.4)


Die Mutter entsetzt über die Entschlossenheit der Tochter, machte ein

weinerliches Gesicht, wie immer von der Tochter ignoriert. Mütterliche Sorgen

irritierten sie nicht. Der Vater unschlüssig daneben mit leerem Gesicht, sagte

nichts.

»Kind, versprich,« seufzte die Mutter zum Abschied, »wenn du nichts mehr zu

essen hast, dann komm zu uns!«

Nora lachte, einundzwanzigjährig. Wie konnte ein Mensch in unschuldiger Jugend

an Hungerleiden denken! Von allen Zweifeln unbelästigt, bastelte sie gerade am

Entwurf eigener Lebensschritte. Sie wollte reisen und die Welt erkunden!

Ein freies Leben stellte sie sich vor! Sie hörte nicht auf die Mutter, das leere

Gesicht des Vaters blieb ohne Wirkung.

Keine Projektionen von Zäunen in ferner Zukunft, sich zeitlich festzuknebeln -

angstlos marschierte sie in ihr junges selbst bestimmtes Leben hinein, unabhängig,

frei… freute sich über jeden Schritt, dachte nicht weiter als bis zum nächsten. Die

Zukunft! klang großartig im Reich der Ungewißheit.

In der Heimat, so schien ihr, stand sie allein mit ihrer Idee, doch unterwegs traf sie

Gleichgesinnte.

So hat die Zeit ihr Leben gekürzt, Vielfalt ihre Erinnerung genährt. Auch das

Hungerleiden lernte sie kennen, der Preis für solchen Hunger. Das Leiden allerdings

hielt sich erstaunlich in Grenzen, war es doch nur der Körper, der litt. Die

innerlichen Sinne, wie Fühlen und Denken, hingegen waren glücklich über

Erfahrungen mit Seltenheitswert.

Das Hungerleiden war nicht schlimm. Die Eindrücke der Fremde entlohnten den

Verzicht des Körpers. Das Leiden reduzierte sich mit jedem Kilometer, mit jedem

Schritt. Der Magen vergaß, was er sonst zu Hause zu brauchen schien. Wenn

nichts anderes vorhanden, aber Hunger da ist, verspeist man abenteuerlustig auch

frisch gegrillte Riesenameisen, Hundegulasch, Schlangensteaks, Quallensuppe mit

Seegurken-Einlage…

Bei den Dogon in Mali lud man sie gastfreundlich zu selbst gebrautem Spucke-Bier

ein. In der Sahara wurde sie beim Essen und Trinken von Fliegen-Geschwadern

attackiert… Auch an exotischen Krankheiten hat sie gelitten…

Das war alles Normalität in der Fremde, jedoch zu Hause im sauberen Deutschland,

wenn sie davon berichtete, fanden es alle fürchterlich. Und sie? Sie lachte. Es war

nebensächlich und doch wichtig…

Irgendwann, längst der Jugend entglitten, verstummte der Ruf aus der Ferne.

Unmerklich erst, dann immer deutlicher legte sich Müdigkeit über sie. Ständig an


einem anderen Ort, überall eine Fremde! …zusehends mehr in der eigenen Stadt.

Das Vagabundieren hinderte sie am Wurzelnschlagen! Die Aufenthalte wurden

länger, auch dort, wo »Heimat« in ihren Pass gestempelt war.

An einem Tag wie jeder andere ging sie die Straße entlang. Beim Bäcker hatte sie

ein Nußhörnchen gekauft. Es lag jetzt in der Stofftasche auf den leeren Flaschen.

Rhythmisches Klappern bei jedem Schritt, wie fröhlich. Sie warf sie in die Container

neben dem kleinen Park, Grünglas, Weißglas, Braunglas. Die Sonne schien. Nora

dachte: Auf der Bank dort drüben ist es sicherlich schön warm! Sie lief an dem

verlassenen Sandkasten vorbei über die feuchte Wiese, setzte sich auf die Bank.

Es war schön warm. Wie gut das tat nach dem langen deutschen Winter.

Menschenleer der kleine Park, als hätte sie es angeordnet. Ihren Ohren entging das

Motoren vorbeifahrender Autos auf der Straße unweit entfernt. Zwitschern

versteckter Vögel, ein ganz normaler Wochentag, Kinder in Schule und

Kindergarten verwahrt, Erwachsene in der Arbeit. Nur sie in der kleinen grünen

Zelle der großen Stadt auf der warmen Bank.

Das Gesicht in die Sonnenstrahlen gereckt, die Augen zu, tanzende Feuermuster

unter den Lidern. Irgendwann sprach eine Stimme sie an:

»Es ist bestimmt schön warm auf der Bank.«

»Ja.« antwortete Nora, vom grellen Licht geblendet.

Eine alte Frau stand vor ihr - kurzes Zögern, dann setzte sie sich.

Schweigendes Baden in wärmenden Sonnenstrahlen.

Auf einmal fragte die Fremde in die Stille:

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?«

Nora riss die Augen auf, sprachlos, die Frage verblüffte, überforderte sie.

Sie war nicht zufrieden mit ihrem Leben! Aber auch nicht todunglücklich. Es el ihr

schwer, ja oder nein zu sagen. Sie hatte doch Augen im Kopf, sah das Leben der

anderen. Sie hatte kein Recht zur Klage. Doch zum Jubeln war ihr ebensowenig.

Das Nußhörnchen in der Tasche el ihr ein. Plötzlich verspürte sie Lust

hineinzubeißen. Warten, bis die alte Frau gegangen ist? Das Nußhörnchen allein

verspeisen? Beides erschien ihr unerträglich. Sie packte es aus, brach es in zwei

Teile, »Möchten Sie ein Stück?«

Die alte Frau nahm die Hälfte überrascht entgegen.

Nun stellte Nora die Frage, die sie selbst nicht beantworten konnte:

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?«

»Mit welchem?« gab die alte Frau mit vollem Mund zurück.

Nora irritiert, was meinte sie damit?

Die Alte tat einen kräftigen Biß, »Wie gut das Nußhörnchen schmeckt! Im

Augenblick bin ich sehr zufrieden…« Die Freude in ihren Augen verjüngte sie, »In


manchen Leben kann ich mich nicht an derlei Dingen erfreuen, dort bin ich eine

andere…«

Nora starrte sie an. Ist sie verrückt? Was redet sie bloß?

»Jetzt denken Sie sicherlich, ich bin verrückt!« lachte die Alte und Nora sah die

Nußhörnchenreste auf Zunge und Zähnen.

Sie lachte mit. Jetzt fand sie, die Alte war doch nicht verrückt.

»Wieviele Leben leben Sie denn?« stieg sie auf diese Geschichte ein.

»Oh, einige…«, die Alte überlegte, »momentan fünf, früher waren es mehr

gewesen.«

»Ihre Leben sind weniger geworden? Wie konnte das geschehen?«

»Ich glaube…« fuhr die Alte fort, »…das muß so sein, daß sich die Leben

reduzieren. Es war meine eigene Entscheidung gewesen, ist mir einfach zuviel

geworden. Und manche Leben entpuppten sich in der Praxis als äußerst

unbrauchbar…«

Sie hielt inne, schien in Nora‘s Gesicht etwas zu entdecken.

»Nun, junge Frau…« begann sie, ihr Tonfall wie der einer Mutter, die ihr Kind

durchschaut, »seien Sie mal ehrlich, welche Leben würden Sie gern leben, wenn Sie

könnten?«

Das war es! Nora spürte, wie die Worte ins Schwarze trafen. Seit sie denken

konnte, stellte sie sich vor, mehrere Leben gleichzeitig zu leben. Und sie eine

Springerin besuchte je nach Stimmung ihre jeweiligen Existenzen…

All ihre Träume und Visionen würde sie verwirklichen können!

Sie lächelte, »Wieviele Leben stehen mir zur Verfügung?«

»Soviel Sie wünschen, junge Frau!«

In Nora‘s Kopf entstand Tumult, Vorschläge überstürzten sich, Gedränge von

Wünschen, mit Mühe konnte sie den vielen Stimmen folgen.

…eine Kardamon-Farm in Kerala! Eine Farm in Afrika! Ein Leben mit der Wildnis! Mit

der Gefahr! Ein Vagabund, namenlos an fremdem Ort! Eine Sängerin bei den

Zigeunern! Medizinfrau in der australischen Prärie! Del nforscherin in der Karibik!

Eine Fischersfrau, Mutter von fröhlichen Kindern, auf einer Insel im Pazi k! Nonne

in einem buddhistischen Kloster! Tänzerin in Paris! Reich und mächtig, die Welt zu

verändern…

Aus dem Chaos tauchte das hohe Fenster eines Erkerzimmers auf… Nora erkannte

das Haus an der kleinen Kreuzung. Es war ihr vor vielen Jahren in einer Kleinstadt

an der spanischen Atlantikküste aufgefallen - wegen dieses Erkerzimmers mit dem

hohen Fenster. Nur ein Schaukelstuhl hatte darin Platz. Nun sah sie sich dort oben

sitzen, mit Strickzeug, mit einem Buch und gelegentlich hinunterblicken… Es gibt

nicht viel zu sehen, der Verkehr schläfrig, wie alles hier. Jahr aus, Jahr ein, kaum


Veränderung. Immer dieselben Gesichter. Menschen, die in die eine oder andere

Richtung gehen, und danach kommen sie wieder heim - werden nur ein wenig älter

dabei. Niemand blickt nach oben zum Erkerfenster. Es kümmert sie nicht, genießt,

ungesehene Beobachterin zu sein. Kein Impuls rührt sie auf, mitzureden,

mitzumachen, hier und dazu etwas zu meinen, zu wollen, gar zu protestieren oder

irgendetwas besser zu wissen. Ihre Augen sehen alles gleich, das Schöne und das

Nichtschöne. Keine P ichten stehlen ihr die Zeit, vierundzwanzig Stunden der

reinen Nutzlosigkeit. Sie ist nicht übermäßig reich, hat gerade genug, bequem zu

leben. Eine freundliche Haushälterin besorgt den Haushalt, ein vertrauenswürdiger

Rechtsanwalt die nanzielle Angelegenheit.

Sie hat sich nie verehelicht, der Erkerblick ist ihr genug. Nichts stört den immer

gleichen Rhythmus! Wunschlos ist sie, auf sich allein beschränkt. Aus dem

Erkerfenster im ersten Stock betrachtet sie die Welt - wie friedlich…

»Oh, das ist gefährlich!« Die Stimme der alten Frau hielt Nora‘s Traum an.

»Das ist gefährlich!« wiederholte die Alte.

Nora eingefroren auf dem Schaukelstuhl in dem Erkerzimmer an der spanischen

Atlantikküste.

»Gefährlich?« murmelte sie vor sich hin, »Falle ich etwa aus dem Fenster?«

Die Alte lachte auf. Und verstummte im nächsten Augenblick mit ernstem Blick,

üsterte: »…weil Sie vielleicht nicht mehr zurückkommen werden!«

Eine Weile verstrich. Die alte Frau war nicht mehr da. Nora allein auf der Bank im

kleinen Park in der großen Stadt. Die Wärme des Holzes an der Unterseite ihrer

Schenkel, unter ihrem Gesäß… Ihr Steiss, einer spitzen Nadel gleich, zog die

Wärme aus der Bank durch sie hindurch nach oben und trat durch ihren Scheitel in

das Sonnenlicht… Eine Stimme in ihrem Ohr kam diesmal von innen, das Echo

verstummte nicht:

»Wurzeln schlagen will ich und nie wieder zurückkommen…«


Hunger nach Leben… (TAKE!) (Nr.5)


An einem Tag wie jeder andere ging Nora die Straße entlang. Beim Bäcker hatte

sie ein Nußhörnchen gekauft. Es lag jetzt in der Stofftasche auf den leeren

Flaschen. Rhythmisches Klappern bei jedem Schritt, wie fröhlich. Sie warf sie in die

Container neben dem kleinen Park, Grünglas, Weißglas, Braunglas. Die Sonne

schien. Nora dachte: Auf der Bank dort drüben ist es sicherlich schön warm! Sie

lief an dem verlassenen Sandkasten vorbei über die feuchte Wiese, setzte sich auf

die Bank. Es war schön warm. Wie gut das tat nach dem langen deutschen Winter.

Menschenleer der kleine Park, als hätte sie es angeordnet. Ihren Ohren entging das

Motoren vorbeifahrender Autos auf der Straße unweit entfernt. Zwitschern versteckter

Vögel, ein ganz normaler Wochentag, Kinder in Schule und

Kindergarten verwahrt, Erwachsene in der Arbeit. Nur sie in der kleinen grünen

Zelle der großen Stadt auf der warmen Bank.

Das Gesicht in die Sonnenstrahlen gereckt, die Augen zu, tanzende Feuermuster

unter den Lidern. Irgendwann sprach eine Stimme sie an:

»Es ist bestimmt schön warm auf der Bank.«

»Ja.« antwortete Nora, vom grellen Licht geblendet.

Eine alte Frau stand vor ihr - kurzes Zögern, dann setzte sie sich.

Schweigendes Baden in wärmenden Sonnenstrahlen.

Auf einmal fragte die Fremde in die Stille:

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?«

Nora riss die Augen auf, sprachlos, die Frage verblüffte, überforderte sie.

Sie war nicht zufrieden mit ihrem Leben! Aber auch nicht todunglücklich. Es el ihr

schwer, ja oder nein zu sagen. Sie hatte doch Augen im Kopf, sah das Leben der

anderen. Sie hatte kein Recht zur Klage. Doch zum Jubeln war ihr ebensowenig.

Das Nußhörnchen in der Tasche

el ihr ein. Plötzlich verspürte sie Lust

hineinzubeißen. Warten, bis die alte Frau gegangen ist? Das Nußhörnchen allein

verspeisen? Beides erschien ihr unerträglich. Sie packte es aus, brach es in zwei

Teile, »Möchten Sie ein Stück?«

Die alte Frau nahm die Hälfte überrascht entgegen.

Nun stellte Nora die Frage, die sie selbst nicht beantworten konnte:

»Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben?«

»Mit welchem?« gab die alte Frau mit vollem Mund zurück.

Nora irritiert, was meinte sie damit?


Die Alte tat einen kräftigen Biß, »Wie gut das Nußhörnchen schmeckt! Im

Augenblick bin ich sehr zufrieden…« Die Freude in ihren Augen verjüngte sie, »In

manchen Leben kann ich mich nicht an derlei Dingen erfreuen, dort bin ich eine

andere…«

Nora starrte sie an. Ist sie verrückt? Was redet sie bloß?

»Jetzt denken Sie sicherlich, ich bin verrückt!« lachte die Alte und Nora sah die

Nußhörnchenreste auf Zunge und Zähnen.

Sie lachte mit. Jetzt fand sie, die Alte war doch nicht verrückt.

»Wieviele Leben leben Sie denn?« stieg sie auf diese Geschichte ein.

»Oh, einige…«, die Alte überlegte, »momentan fünf, früher waren es mehr

gewesen.«

»Ihre Leben sind weniger geworden? Wie konnte das geschehen?«

»Ich glaube…« fuhr die Alte fort, »…das muß so sein, daß sich die Leben

reduzieren. Es war meine eigene Entscheidung gewesen, ist mir einfach zuviel

geworden. Und manche Leben entpuppten sich in der Praxis als äußerst

unbrauchbar…«

Sie hielt inne, schien in Nora‘s Gesicht etwas zu entdecken.

»Nun, junge Frau…« begann sie, ihr Tonfall wie der einer Mutter, die ihr Kind

durchschaut, »seien Sie mal ehrlich, welche Leben würden Sie gern leben, wenn Sie

könnten?«

Das war es! Nora spürte, wie die Worte ins Schwarze trafen. Seit sie denken

konnte, stellte sie sich vor, mehrere Leben gleichzeitig zu leben. Und sie eine

Springerin besuchte je nach Stimmung ihre jeweiligen Existenzen…

All ihre Träume und Visionen würde sie verwirklichen können!

Sie lächelte, »Wieviele Leben stehen mir zur Verfügung?«

»Soviel Sie wünschen, junge Frau!«

In Nora‘s Kopf entstand Tumult, Vorschläge überstürzten sich, Gedränge von

Wünschen, mit Mühe konnte sie den vielen Stimmen folgen.

…eine Kardamon-Farm in Kerala! Eine Farm in Afrika! Ein Leben mit der Wildnis! Mit

der Gefahr! Ein Vagabund, namenlos an fremdem Ort! Eine Sängerin bei den

Zigeunern! Medizinfrau in der australischen Prärie! Del nforscherin in der Karibik!

Eine Fischersfrau, Mutter von fröhlichen Kindern, auf einer Insel im Pazi k! Nonne

in einem buddhistischen Kloster! Tänzerin in Paris! Reich und mächtig, die Welt

verändern…


Aus dem Chaos tauchte das hohe Fenster eines Erkerzimmers auf… Nora erkannte

das Haus an der kleinen Kreuzung. Es war ihr vor vielen Jahren in einer Kleinstadt

an der spanischen Atlantikküste aufgefallen - wegen dieses Erkerzimmers mit dem

hohen Fenster. Nur ein Schaukelstuhl hatte darin Platz. Nun sah sie sich dort oben

sitzen, mit Strickzeug, mit einem Buch und gelegentlich hinunterblicken… Es gibt

nicht viel zu sehen, der Verkehr schläfrig, wie alles hier. Jahr aus, Jahr ein, kaum

Veränderung. Immer dieselben Gesichter. Menschen, die in die eine oder andere

Richtung gehen, und danach kommen sie wieder heim - werden nur ein wenig älter

dabei. Niemand blickt nach oben zum Erkerfenster. Es kümmert sie nicht, genießt,

ungesehene Beobachterin zu sein. Kein Impuls rührt sie auf, mitzureden,

mitzumachen, hier und dazu etwas zu meinen, zu wollen, gar zu protestieren oder

irgendetwas besser zu wissen. Ihre Augen sehen alles gleich, das Schöne und das

Nichtschöne. Keine P ichten stehlen ihr die Zeit, vierundzwanzig Stunden der

reinen Nutzlosigkeit. Sie ist nicht übermäßig reich, hat gerade genug, bequem zu

leben. Eine freundliche Haushälterin besorgt den Haushalt, ein vertrauenswürdiger

Rechtsanwalt die nanzielle Angelegenheit.

Sie hat sich nie verehelicht, der Erkerblick ist ihr genug. Nichts stört den immer

gleichen Rhythmus! Wunschlos ist sie, auf sich allein beschränkt. Aus dem

Erkerfenster im ersten Stock betrachtet sie die Welt - wie friedlich…

»Oh, das ist gefährlich!« Die Stimme der alten Frau hielt Nora‘s Traum an.

»Das ist gefährlich!« wiederholte die Alte.

Nora eingefroren auf dem Schaukelstuhl in dem Erkerzimmer an der spanischen

Atlantikküste.

»Gefährlich?« murmelte sie vor sich hin, »Falle ich etwa aus dem Fenster?«

Die Alte lachte auf. Und verstummte im nächsten Augenblick mit ernstem Blick,

üsterte: »…weil Sie vielleicht nicht mehr zurückkommen werden!«

Eine Weile verstrich. Die alte Frau war nicht mehr da. Nora allein auf der Bank im

kleinen Park in der großen Stadt. Die Wärme des Holzes an der Unterseite ihrer

Schenkel, unter ihrem Gesäß… Ihr Steiss, einer spitzen Nadel gleich, zog die

Wärme aus der Bank durch sie hindurch nach oben und trat durch ihren Scheitel in

das Sonnenlicht… Eine Stimme in ihrem Ohr kam diesmal von innen, das Echo

verstummte nicht:

»Wurzeln schlagen will ich und nie wieder zurückkommen…«



 


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