Die Kluft, die Erinnerung frißt
- Sylvie Bantle
- 21. März
- 4 Min. Lesezeit

Eines Morgens, es war ein ganz normaler Tag, erfuhr Rosa, daß sie binnen
vierundzwanzig Stunden diese Welt verlassen sollte.
Gleichmütig nahm sie diese Mitteilung zur Kenntnis. Es war nichts Un-
gewöhnliches, jemand soll diese Welt verlassen und nach oben gebracht
werden. So wurde es jeden Morgen beschlossen. Von wem, das wußte keiner.
Daher regte sich nicht das leiseste Gefühl von Weigerung in ihr. Keine
Stimme rebellierte, niemand in der Welt. Am nächsten Tag wird man abge-
holt und nach oben gebracht. So waren die Regeln, allgemein bekannt und
durchaus logisch - wer diese Welt verließ, wurde nach oben gebracht.
Wie es dort oben aussah und was einen da erwartete, blieb dem irdischen
Verstand unbegreifbar. Nur eines war klar: Wer nach oben gebracht wird, be-
tritt eine andere Welt.
Irgendwie beruhigend, obgleich der Transport von unten nach oben in ab-
soluter Verborgenheit vonstattenging. Niemandem wäre es eingefallen, je
danach zu fragen. Für menschliche Ohren gab es darauf keine Antwort. So
war es nicht einmal ein Geheimnis. Denn Geheimnisse wollen gelüftet wer-
den.
Welten sind nun mal voneinander getrennt! Wie könnte die eine schon
eine andere verstehen? Zwar gab es Boten, die zwischen ihnen hinundher
pendelten, doch unterstanden sie dem Reich dazwischen.
Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Morgen wird man mich abholen
und nach oben bringen! dachte Rosa, ohne viel daran zu denken. Vielmehr
beschäftigte sie ein anderer Gedanke: Wie kann ich Karl später wieder nden?
Gleich beim Frühstück besprach sie die Situation mit ihrem Mann.
»menach…« sagte sie plötzlich wie in Trance, »…das altägyptische Wort
für ‘ewig‘.«
Karl schaute sie fragend an. Marmelade kullerte von ihrem Brot, lief zwi-
schen ihren Fingern entlang und tröpfelte auf die Tischdecke.
»Das ist es!« rief sie aus, »Wir brauchen ein Erkennungswort! Ein Wort,
das wir nie vergessen werden.«
»Ja, das ist eine gute Idee,« antwortete Karl, »aber mit ‘menach‘ hab ich
nichts am Hut, das kannst nur du dir merken.«
Das stimmte. Sie war die Ägyptologin, er kannte sich mit Theater aus.
Rosa dachte angestrengt nach.
»…trotzdem, es muß ein ewig gültiges Wort sein,« überlegte sie laut, »ein
Wort, das uns beiden wichtig ist, damit es uns in der anderen Welt wieder
zusammenführen kann…«
Natürlich war Karl von dieser Idee angetan.
»Jaja…« nickte er, »es muß das richtige Wort sein.«
Es mußte ein Wort sein, das über beide mächtig war, über ihn sowie über
sie, damit es dem Übergang von der einen in die andere Welt standhielt.
Noch während des Frühstücks el es ihnen ein und so entwarfen sie den
Plan für ihre Verabredung im nächsten Leben. Sie würden dieses Wort mit ih-
rer neuen Telefonnummer in der Zeitung veröffentlichen und sobald es der
andere las, würde er es wiedererkennen und anrufen…
»Wie einfach!« lachten sie.
»Du mußt es dir unbedingt merken!« beschwörte sie ihn.
»Ich werde es bestimmt niemals vergessen!« versprach er ihr.
Kein Zweifel störte ihre Zuversicht. Gelassen sahen sie Rosa‘s Abreise ent-
gegen.
Ein Gefühl von Unbehagen tauchte erst viel später auf - bei Rosa.
Zum Schlafen legten sie sich nicht mehr nieder in dieser letzten gemein-
samen Nacht, jede Minute wollten sie zusammen auskosten. Es wurde
Abend, Mitternacht rückte näher, Stunde um Stunde die bevorstehende Ab-
reise. Morgen wird man mich abholen! dachte Rosa jetzt mit Verwunderung,
weil sie daran etwas zu stören begann. Aus der Ferne winkte ihr etwas zu:
der Abschiedsschmerz.
Sie wollte nicht Abschiednehmen! Lieber die Zeit hinausdehnen. Als es an-
ng zu schmerzen, beschloß sie, ihre Abreise um einen Tag zu verschieben.
Das ging ohne Probleme, es war erlaubt, denn es war ihre Entscheidung.
Sie badete in Erleichterung, noch einen kostbaren Tag mehr würden sie
miteinander verbringen.
Die Sorglosigkeit hielt nicht lange an, erneutes Unbehagen beherrschte die
Sinne. Schon wieder rann die Zeit dahin, wie die Marmelade zwischen den
Fingern. Das nahende Abschiednehmen überwältigte ihren Gleichmut,
zwang ihn gänzlich unter sich. Aufbegehrende Gefühle rotteten sich zusam-
men, belagerten schreiend alles Denken. Ich will nicht gehen! Ich will blei-
ben!
Warum dieses Ringen um Tage, Wochen, Monate? Der Weltuntergang
stand doch ohnehin kurz bevor.
Die aufbegehrenden Gefühle entsprangen nicht etwa der Angst, nach oben
gebracht zu werden. Rosa fürchtete weder die andere Welt noch die Strecke
dazwischen. Nein, es war nicht Angst. Es war Karl! Sie wollte nicht von ihm
getrennt sein. Ihn niemals verlieren. Warum auch? Wozu sollte das gut sein?
Bohrende Fragen mauserten sich zu gefährlichen Rebellen. Und wieder
Verwunderung: Wieso bin ich am Anfang nur so arglos gewesen?
Kein Laut dieser Revolte drang bis zu ihrem Mund, tobte erst im Innern,
wie in der Erde ein Vulkan vor seinem Ausbruch.
Also machten sie sich in der Nacht auf den Weg. Karl begleitete Rosa zum
Bungalow, wo man auf das Abholen wartete und vorbereitet wurde. Ein paar
Frauen und Männer lagen auf weiß überzogenen Betten, bereits fertig zur
Abreise. Wer wollte, konnte sich mit einem Laken zudecken. Sie waren wach
und wechselten gedämpfte Worte mit dem Bettnachbarn oder der Betreuerin.
Auch das Licht war gedämpft, und ein wenig golden. Der Raum gefüllt mit
friedlichen Luftmolekülen, so war die Stimmung.
Rosa und Karl schlenderten zwischen den Betten umher, als hätten sie alle
Zeit zur Verfügung. Sie fühlten sich wohl dort, wie Kinder beim Spielen. Bis
Rosa unvermittelt stehen blieb und erstarrte. Gleich komme ich an die Reihe!
Es war ein einziger Gedanke, der von innen den Sturm losbrach und sie mit
nackten Füßen auf kalten Boden stellte. Das Unbehagen wurde unerträglich.
Plötzlich wußte sie, was sie wollte. Auch wenn diese Welt bald unterging,
sie wollte solange bleiben, bis dies geschah. Und später mit den anderen ge-
hen, vor allem mit ihrem Allerliebsten.
Der Wunsch wurde ihr gewährt. Welch ein Glück! Sie wußte nicht, daß sie
träumte…
Als sie erwachte, füllte der Traum ihre Erinnerung. Mit geschlossenen Au-
gen blieben die Bilder lebendig, auch das magische Wort. Es ließ sich aber
nur fühlen, wollte sie es denken, war es verschwunden.
Verzweifelt durchsuchte sie alle Winkel nach einer Brücke dorthin. Vergeb-
lich, das Wort blieb im Dunkeln. Der Traum hat es bei sich behalten, drüben
auf der anderen Seite, dazwischen lag die Kluft, die Erinnerung frißt.
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