Broken Glass
- Sylvie Bantle
- 21. März
- 26 Min. Lesezeit

…die Suche nach der Schuld…
Die Geschichte
von der Magie eines Mißverständnisses
1 - Die Idee mit dem Auto
Mandi Shilpa ist aufgeregt wie ein Teenager vor dem ers-
ten Kuß. Der Grund ist er, ihr Verlobter. Sie hat ihn seit
langem nicht gesehen. Achttausend Kilometer hatten sie
für viele Wochen voneinander getrennt, das sind grausa-
me Zahlen, eine Folter für verliebte Menschen.
Natürlich wird sie am Flughafen stehen, wenn er an-
kommt, mit rasendem Herzklopfen, und wahrscheinlich
wird sie zwischen der Glastür und den Monitoren ständig
hin und her laufen, um seine Ankunft bloß nicht zu ver-
passen. Der Auskunft auf den Bildschirmen würde sie
dennoch nicht glauben. Bei soviel Rummel war ein Irrtum
nicht auszuschließen, wie also konnte sie der Richtigkeit
der angegebenen Ankunftszeiten auf den Monitoren trau-
en? Die Glastür würde sie nicht aus den Augen lassen, im
Falle, daß die Flughafenzentrale vergessen hat, die An-
kunft der Maschine ihres Verlobten bekanntzugeben…
Mandi Shilpa, obwohl bereits in der Mitte des Lebens,
hatte nie ein eigenes Auto besessen, den Führerschein
machte sie erst vor zwei Jahren.
Sie braucht kein eigenes Auto, sagt sie. In der Stadt läßt
sich alles mit den öffentlichen Verkehrsmitteln regeln und
bei gutem Wetter ist sie mit dem Fahrrad unterwegs. Gibt
es wirklich einmal eine Situation, die sie lieber mit dem
Auto erledigt, dann kann sie ihre Freunde darum bitten,
ihr eins zu leihen.
Am liebsten würde sie ihren Verlobten natürlich mit dem
Auto vom Flughafen abholen, das ist viel bequemer und
außerdem schneller. Er hingegen hatte ziemlich hartnä-
ckig darauf bestanden, daß sie mit der S-Bahn kommt.
»…ich werde dich mit dem Auto abholen!« hatte sie vor
seiner Abreise zu ihm gesagt.
»Nein, mir ist es lieber, du kommst mit der S-Bahn!« hatte
er daraufhin geantwortet.
»Aber mit dem Auto ist es doch viel bequemer…«
»Aber es ist sicherer, wenn du mit der S-Bahn fährst…«
»Ach, so ein Blödsinn, ich hole dich mit dem Auto ab!«
»Nein, du kommst mit der S-Bahn!«
»Nein, ich fahre mit dem Auto…«
So ging es hin und her, ohne, daß sie sich einigten.
Das war typisch für ihn, sie konnte ihn in diesem Anlie-
gen nicht ernstnehmen. Sein Verhalten entstammte weni-
ger dem Mißtrauen in ihre Fahrtüchtigkeit als seiner
Skepsis gegenüber dem Straßenverkehr. Da war er sehr
ängstlich, nicht aber gegenüber dem Leben!
Schließlich kam es genauso, wie er es sich gewünscht hat-
te, obwohl sie alles ganz anders plante…
2 Der Plan, mit dem Auto zu fahren
»Hallo Helge Rose, hallo Olga Sassa!« sprach Mandi Shil-
pa auf den Anrufbeantworter, »Seid ihr da oder seid ihr
nicht da?«
Niemand nahm den Hörer ab. Dies bedeutete nicht unbe-
dingt, daß niemand da war; manchmal schliefen sie oder
meditierten oder…
So mußte sich Mandi Shilpa mit dem Anrufbeantworter
begnügen.
»Offensichtlich seid ihr nicht da,« sagte sie, »oder ihr seid
zu beschäftigt, um ranzugehen…«
Sie kicherte und fuhr dann fort:
»Ich wollte nur schon mal meine Buchung für die Famili-
enkarosse anmelden. Es ist zwar noch zehn Tage hin, aber
natürlich wäre es schön, wenn ich meinen Schatz mit dem
Auto vom Flughafen abholen könnte…«
Sie machte Vorschläge zur Handhabung der Autoüberga-
be und desweiteren, wie sie Helge Rose für seine Großzü-
gigkeit entschädigen könnte.
»…wie ich dich kenne, attert bestimmt wieder ein Straf-
zettel in deinem Auto herum, den du noch nicht bezahlt
hast! Es kommt dir doch sicherlich entgegen, wenn ich dir
diese ärgerliche Sache abnehmen kann…«
Daß sie mit dem Anrufbeantworter sprach, war ihr längst
nicht mehr bewußt. Sie redete, bis die Stimme aus dem
Apparat sie unterbrach: »Vielen Dank für Ihre Nachricht.«
und daraufhin ein hektisches »piep-piep-piep…« von sich
gab. Die Aufnahmekapazität war erschöpft.
Das mit dem Strafzettel war ein ganz spezielles Abkom-
men von ihr und Helge Rose. Dafür, daß er ihr sein Auto
lieh, zahlte sie ihm bereitwillig seinen Strafzettel! Das kam
ihm einer Rettung gleich. Denn allein der bloße Anblick
eines Strafzettels verdarb ihm jede noch so gute Laune.
Ehe er sich versah, brach die quälende Revolte aus ihm
hervor, und jegliche Logik und Vernunft mißachtend,
schalt er über die einengende Gesetzgebung des Staates.
Seine Wutausbrüche endeten stets damit, daß er verdros-
sen an dem Plan bastelte, dieses schreckliche Land, das
wegen falschen Parkens Strafzettel vergab, endgültig zu
verlassen.
Selbst wenn ein Strafzettel wochenlang in seinem Auto
herumlag, konnte er sich an den Anblick nicht gewöhnen.
Es kamen neue Strafzettel hinzu, was seinen Zustand au-
genblicklich verschlimmerte. Dennoch tat er nichts der-
gleichen, um die Situation zu verbessern. Anstatt die
zornauslösenden Papierchen zu bezahlen und in Zukunft
richtig zu parken, schien er von kleinen Teufelchen dazu
verleitet, den Kampf mit den Vorschriften und den Poli-
tessen bloß nicht aufzugeben. Eisern trotzte er den zahl-
reichen Mahnungen und empfand sogar Stolz dabei,
wenn er seine Zahlungsverweigerung bis zur Pfändungs-
androhung hinauszögern konnte. Die längst erwarteten
Klingelzeichen an der Wohnungstür verrieten ihm
schließlich unmißvertändlich, daß er besser daran tat,
nicht zu öffnen und den inzwischen beträchtlich gewach-
senen Betrag seiner lächerlichen Straftat endlich zu be-
gleichen.
Nichtsdestotrotz lauerte an der nächsten Straßenecke be-
reits die nächste Chance, sich auf diese ungewöhnliche
Weise abzureagieren und das Auto so provokant zu par-
ken, daß es dem polizeilichen Blick keinesfalls entgehen
konnte…
3 Der Zufall mit der Telefonnummer
Helge Rose hatte kürzlich ein altes Auto geschenkt be-
kommen, über die Zeitung! Was für ein Glücksfall!
Das antik-orange-farbene Auto mit der schwarz lackierten
Motorhaube ist das perfekte Leihauto. Vorher fuhr er ei-
nen teuren Leasing-Wagen, da hätte jeder Kratzer ge-
schmerzt. Nein, tolle, teure, neue Autos sind nicht geeig-
net zum Herleihen!
Mandi Shilpa war die einzige, die sich das alte Auto aus-
lieh, so gab es kein Gedränge. Und außerdem, wer hatte
es heutzutage schon nötig, sich mit einem Lenkrad ohne
Servolenkung abzurackern?
Helgo Roses Auto ist ein besonderes Auto, auch wenn es
überhaupt nicht schön ist. Wer bekommt schon von einem
Wildfremden aus der Zeitung ein Auto geschenkt?! Das
außerdem mindestens tausend Mark wert ist und noch
ein Jahr TÜV hat?! Und dann der Zufall, der ihm dazu
verhalf!
Wenn in der Zeitung ein fahrtüchtiges Auto verschenkt
wird, meldet sich verständlicherweise die halbe Welt.
Man bekommt unzählige Anrufe einer ganzen Schar von
ausländischen Autoschiebern.
Der Zufall wollte es, daß Helge Rose und Olga Sassa in
der Nachbarschaft des Autoverschenkers wohnen. Daher
sind die ersten drei Ziffern ihrer Telefonnummern iden-
tisch. Das ist dem Autoverschenker sofort aufgefallen und
es ge el ihm so gut, daß er die beiden zu den Gewinnern
auserwählte…
4 Das tanzende Kind
Eine dicke Frau mit einem vollgeladenen Einkaufskorb
unter den Arm geklemmt durchquert den Hof vor dem
Haus. Ihre kleine Tochter springt fröhlich hinter ihr her,
und eine selbstgefundene Melodie summend, legt sie
mindestens die zehnfache Wegstrecke der Mutter zurück.
Auf einmal hält sie kurz inne, so als träfe sie eine glück-
versprechende Einsicht, rennt ganz in der Gewalt dieses
Impulses zur Mutter, und sucht im vollgeladenen Ein-
kaufskorb nach der Quelle ihrer kindlichen Vision. Da
passiert es ohne ihren Willen, schmettert das Unglück mit-
ten in die glückselige Stimmung hinein…
»Verdammt, kannst du nicht aufpassen?« schreit die Mut-
ter, aufgeregt, weil sie der plötzliche Krach ziemlich er-
schrocken hatte.
Die Milch asche war bei der Visionssuche versehentlich
aus dem Korb gerutscht und beim Aufprall auf dem P as-
ter mit voller Wucht explodiert. Nur wenige Schritte vor
der Haustüre! Es war so schnell gegangen. Da blieb keine
Zeit mehr, den Fall aufzufangen und die Milchexplosion
zu verhindern, und damit Mutter‘s gute Laune und sich
selbst vor Schuldgefühlen zu retten…
Das Kind ist wie gelähmt vor Schreck. Nicht wegen der
schimpfenden Mutter, nein, an das Schimpfen der Mutter
ist es ja seit Geburt an gewohnt. Nein, sondern einzig die
heftige Milchexplosion verursacht ihren lähmenden
Schreck. Für einen Moment glaubte es, eine Bombe sei
vom Himmel heruntergefallen, hielt dieses krachende
milchgefüllte Ding außerirdischen Ursprungs … ein Gruß
von der Milchstraße…
»Da schau, was du gemacht hast!« schimpft die Mutter,
die sich bereits nach den Scherben auf dem Asphalt bückt
und sie seufzend und jammernd und klagend zusam-
menklaubt.
»Womit habe ich das verdient…« lamentiert sie weiter
und weiter, »kannst du mir sagen, was du dir dabei ge-
dacht hast…«
Schuldig und zugleich unschuldig steht das Kind dane-
ben und bleibt stumm.
Was es sich dabei gedacht hat? Überlegt es ehrlich. Glaubt
die Mutter etwa, es habe dies mit Absicht getan und sich
gedacht: So jetzt schmeiß ich mal eben nur zum Spaß die
Milch asche auf den Boden, damit es schön laut kracht?
Es hatte doch nur nach dem Lutscher im Einkaufskorb ge-
sucht! Und weil die Mutter wie so oft in Eile war und
nicht stehen bleiben wollte, mußte es während des Ge-
hens nach dem Lutscher suchen. Dabei hatte es dann un-
glücklicherweise nicht an die Milch asche gedacht…
Die Mutter schimpft in einem fort, und das Kind nutzt eif-
rig die Chance, seine Untat auszugleichen, indem es, eine
reuevolle Miene im Gesicht, die Scherben einzeln zur
Mülltonne trägt. Das ist so umständlich, daß es der Mut-
ter bestimmt nicht entgehen kann, wie sehr es sich bereits
selbst bestraft und büßt.
Plötzlich kommt heftiger Wind auf. Es bleibt keine Zeit
mehr, ein Gewitter bricht los. Im dritten Stock schaut das
Kind nochmals aus dem Fenster in den Hof hinunter. Der
Platzregen wäscht die Stelle der Milchexplosion wieder
sauber, von dem Mißgeschick, der Untat des Kindes, ist
nichts mehr zu erkennen, die Schuld des Kindes ist weg-
gewaschen…
Ein Stückchen Scherbe liegt noch dort, zu klein, um vom
menschlichen Auge gesehen zu werden, und doch groß
genug, etwas weiches zu durchstechen…
5 Mit ausgebreiteten Armen
Stand ein seltener Aus ug mit dem Auto bevor, mußte
Mandi Shilpa eingehend Stadtplan und Landkarte studie-
ren, bevor sie es wagte, ihre Fahrt anzutreten.
Die Routine, mit einem eigenen Auto durch die Gegend
zu fahren, fehlte ihr und das machte sie ziemlich nervös,
sobald sie alleine in einem geborgten Auto saß. Selbst
wenn sie eine Strecke zu fahren hatte, die sie seit Jahren
kannte, hatte sie immer den Stadtplan auf dem Schoß.
Bisher war sie eben nur als passive Mitfahrerin daneben
gesessen, einzig damit beschäftigt, die vorbei itzenden
Häuser und Straßen durch das Fenster zu betrachten und
den Fahrer mit Geschichten aus ihrem Leben zu unterhal-
ten.
Im Geiste fuhr sie nun die lange Strecke zum Flughafen
ab, um sicher zu sein, daß sie sich nicht verfahren würde.
Auf keinen Fall durfte sie riskieren, zu spät zu kommen.
Sie stellte sich vor, wie sie bereits dastand, wenn er mit
seinem Gepäck durch die Glastür des Sicherheitsbereiches
herauskam … sie würde ihm entgegen laufen, mit ausge-
breiteten Armen und jubelndem Herzklopfen…
Ja, das war das Allerwichtigste für diesen Augenblick des
Wiedersehens.
Sie hat alles genau durchkalkuliert. Lediglich höhere Ge-
walt könnte nun einen Strich durch ihre Planung machen,
rechtzeitig am Flughafen zu sein.
6 Die Phantasie ist wie ein Feind
Noch drei Tage, zwei Tage…
Noch vierundzwanzig Stunden, achtzehn, neun… drei
Stunden…
Noch zwei Stunden… dann landet er!
Mandi Shilpa ist aufgeregt wie ein Teenager vor dem ers-
ten Kuß.
Heute wird er endlich aus dem fernen Ausland zurück-
kommen! Seit gestern zählt sie schon jede Stunde. Vier-
undzwanzig Stunden können sehr langsam verstreichen.
Aber sie verstreichen, das ist das einzige Beruhigende
daran.
Olga Sassa hatte vor zwei Tagen zurückgerufen und ge-
meint, das Auto sei an jenem besagten Freitag auf jeden
Fall frei.
»Helge braucht es am Nachmittag bestimmt nicht.« versi-
cherte sie und wollte dann wissen, ob sie, Mandi Shilpa,
schon sehr aufgeregt sei, ihren Liebsten wiederzusehen.
»Was glaubst du,« kam die Antwort wie aus der Pistole
geschossen, »ich bin schon ganz aus dem Häuschen…«
Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück.
»Du kennst mich ja,« fuhr sie fort, »ich kann mich einfach
nicht davor wehren zu dramatisieren … meine Phantasie
schreibt eine Gruselgeschichte schlimmer als die nächste:
das Flugzeug stürzt ab oder er stirbt bei einem Busun-
glück und so weiter in diesem Stil. Manchmal fürchte ich,
verrückt zu werden vor Angst, daß ihm etwas zustößt…«
»Ach, du sorgst dich zuviel, es wird sicher alles gut ge-
hen!« entgegnete Olga Sassa etwas zögerlich, weil sie et-
was tröstliches sagen wollte, aber nicht so recht wußte,
wie sie es sagen sollte.
»Ja natürlich,« meldete sich Mandi Shilpa‘s Stimme la-
chend zurück, »so redet meine Vernunft auch immer zu
meinem inneren Kind, das kurz inne hält und dann wild
weiter phantasiert…«
Zur letzten Absicherung rief sie zwei Stunden vor Verlas-
sen des Hauses bei der Flughafen-Auskunft an und er-
fährt, daß die heißerwartete Maschine bereits zehn Minu-
ten eher landen würde.
7 Der Unsicherheitsfaktor einer Planung
Neunzig Minuten vor Verlassen des Hauses ruft Helge
Rose an. »Eigentlich wollten wir noch einkaufen gehen,
aber vor einer Stunde kommen wir wahrscheinlich nicht
los. Falls wir doch schneller sind, rufe ich einfach noch
mal durch … ach ja, da wir dann mit dem Fahrrad unter-
wegs sind, können wir dir leider nicht das Auto vorbei-
bringen, sondern nur die Schlüssel…«
»Das war sowieso nicht ausgemacht! Ihr braucht mir doch
nicht das Auto vorbei bringen…«
»Na gut, ich mach jetzt noch ein bißchen action hier, bis
dann…«
Mandi Shilpa lacht. Solange sie gut in ihrer Zeit liegt, hat
sie nichts gegen kleine Planänderungen einzuwenden.
Trotzdem ist sie nervös. Es ist eine Nervosität, die einen
nur zu sehr seltenen Anlässen ergreift. Man ist beherrscht
von einer eisernen inneren Ruhe und gleichzeitig glaubt
man sich von einer Abschußrampe auf einen unabänderli-
chen Kurs geschossen worden zu sein, mit dem simplen
vor der Glastür am Flughafen zu stehen. Manchmal er-
scheint es ihr wie ein schwer bedrohtes Vorhaben. Was
alles dazwischen kommen kann?! Die S-Bahn entgleist,
die Autobahn ist total blockiert, das ausgeliehene Auto
von Helge Rose bleibt mitten auf der Strecke stehen und
bockt…
Nein, das war ziemlich ausgeschlossen, es ist doch ein
ganz besonderes Auto. Niemals würde es bei einer so
wichtigen Unternehmung stehen bleiben. Niemals! Mandi
Shilpa ist sich darin hundertprozentig sicher. Sie weiß es.
Auf der Suche nach Gefahren ihres bescheidenen aber so
dringlichen Vorhabens kann das Auto als aller erstes aus-
scheiden, es würde ihr keinen Strich durch die Rechnung
machen.
Eher menschliches Versagen, ein Riesenstau, weil alle
beim Vorbeifahren am Unfallort glotzen müssen, oder
weil eine Kuh auf der Autobahn herumirrt oder ein Geis-
terfahrer…
Und die höheren Mächte?! Jene Fälle, wo eigentlich nie-
mand die Schuld trägt, wenn aufgrund unerklärlicher
Umstände etwas nicht klappt. Plötzlich versagt die Ober-
leitung der S-Bahn! Niemand kennt den Grund, alles
sucht vergeblich danach… Das könnte Stunden dauern,
bis sie den Fughafen erreichte… Ein Alptraum.
Was fängt sie mit dieser einen verbleibenden Stunde noch
an? Was lohnt sich für Sinn und Nerven zu tun, bis sie das
Haus verläßt? Diese Frage ist nicht einfach zu beantwor-
ten.
Zum dritten Mal wechselt sie Hose und Oberteil und
wählt dann beim vierten Umziehen einen langen Rock mit
passender Bluse. Sie will ein schöner Anblick sein, wenn
ihr Liebster aus der Glastür am Flughafen tritt. Das ist
nicht leicht unter solcher Hochspannung. Entweder sie
entschied sich ständig für die falschen Sachen oder ihr
Blick hat eine Störung.
In dem dunkelblauen verspielten Zweiteiler dann fühlt sie
sich passend zur aktuellen Stimmung und endlich wohl.
8 Die mißachtete Warnung
Sie raucht noch eine Zigarette und betrachtet sich von
weitem im Spiegel. Das Radio ist eingeschaltet. Es kann
bestimmt nicht schaden, die Nachrichten zu hören. Grö-
ßere Ereignisse auf der Autobahn und der S-Bahnstrecke
zum Flughafen würde sicherlich gemeldet werden.
In einer Stunde wird sie mit dem Fahrrad zu Helge Rose
und Olga Sassa fahren, die Autoschlüssel in Empfang
nehmen und von dort gleich zum Flughafen durchstar-
ten…
Wieder dringen Hiobsgedanken durch, an die sie sich
schon fast gewöhnt hat, bis auf die Ängste, mit denen sie
dann ringt. Vielleicht sollte sie doch lieber mit der S-Bahn
fahren und nicht mit dem Auto…
Die bösen Geister rütteln ihre Erinnerung wach und über-
schütten diese Gedanken mit einer vertrauten Stimme,
seiner Stimme: »…es wäre mir lieber, du kommst mit der
S-Bahn zum Flughafen und nicht mit dem Auto…« Er hat-
te es ihr sogar noch mehrmals am Telefon gesagt, und sie
hatte ihn mit seiner Sorge stets ausgelacht und darauf be-
standen, ihn mit Helge Rose‘s Auto vom Flughafen abzu-
holen. Sollte sie in seiner Bitte eine Warnung erkennen?
Seine Intuition ist sehr ausgeprägt, das hat sie schon oft
bemerkt. Oder sollte sie ihre verrückten Gedanken diszi-
plinieren…
9 Die Zeit bleibt nie stehen
Noch zwanzig Minuten. Das Telefon klingelt. Es ist Helge
Rose.
»Hallo Närrin, bist du schon ausge ippt?« fragt Helge
Rose lachend.
»Nein, nein, ich bin relativ cool!« antwortet Mandi Shilpa
und merkt in diesem Moment erst, daß ihre Lippen schon
die ganze Zeit zu einem Dauerlächeln verzogen sind.
»Naja, so cool auch wieder nicht…« meint sie dann, »aber
ich hab das schon im Griff!«
»Oh, sehr gut! Hauptsache, das Leben wird nicht langwei-
lig und bietet genügend Abwechslung…!« Helge Rose
achst und lacht genüßlich weiter. Obwohl er ein ausge-
sprochen tiefsinniger Mann ist, liebt er es zu scherzen.
Dieses Bedürfnis hat er sogar so weit perfektioniert, daß
allein seine Ansage auf dem Anrufbeantworter den Anru-
fer zum Lachen bringt.
»Hey, Närrin, ich hab dich noch nie so wortkarg erlebt!
Bist du noch dran?«
Mandi Shilpa lacht auch, aber nur kurz. Entgegen ihrer
Gewohnheit hat sie heute sogar die Spinnereien im Griff,
für die sie sich gewöhnlich begeistern kann, und geht auf
Helge Rose‘s spaßige Dialogversuche diesmal nur spar-
sam ein. Der Blick auf den tickenden Sekundenzeiger der
Wanduhr überzeugt sie ohne Zögern, daß für Albernhei-
ten jetzt nicht die geeignete Zeit ist.
»Weshalb hast du überhaupt angerufen?« fragt sie unge-
duldig und beobachtet, wie sich die Zeiger langsam über
das Ziffernblatt schieben, das sich dadurch permanent
verändert.
»Ach ja natürlich, warum ich anrufe, beinahe hätte ich es
vergessen…« Helge Rose räuspert sich, »wir sind doch
schneller fertig geworden als erwartet und machen uns
jetzt zum Einkaufen auf den Weg … das heißt, wir
schwingen uns auf unsere Räder und bringen dir die Au-
toschlüssel in etwa zehn Minuten vorbei…«
Mandi Shilpa ist einverstanden, alles ist in ihrem Zeitplan.
»In zehn Minuten, ganz bestimmt!« verspricht Helge
Rose.
»Gut!« antwortet Mandi Shilpa, »Ich muß nämlich dann
sofort los…«
Nachdem sie eingehängt hat und die ersten Minuten laut-
los verstreichen, wird sie von Unbehagen ergriffen. Was
nun, wenn Helge Rose‘s gelegentlicher Unpünktlich-
keitscharakter ausgerechnet heute die Oberhand hat?
Überlegt sie von beunruhigenden Impulsen getrieben.
Nein, nicht heute! Sagt sie zu sich selbst. Das ist das Glei-
che wie mit seinem Auto. Er weiß genau, wie wichtig die-
ser Termin für mich ist…
Sie kann den inneren Aufruhr besiegen, indem sie ihrem
Gefühl vertraut. Auch Helge Rose freut sich auf die An-
kunft ihres Verlobten, er hat bereits vor Tagen ein Will-
kommensessen angekündigt, das er eigenhändig zuberei-
ten wollte.
Es darf nichts schiefgehen! üstern ihre Gedanken und
lauern ihr erneut mit Schreckensbildern auf.
…ganz abgesehen von einem Unfall, könnte sie in einen
Stau geraten…
Die größeren Gefahren lauern im Straßenverkehr, überlegt
sie. Daß sich die S-Bahn verspätete, kommt hingegen äu-
ßerst selten vor.
Es gibt nur eines womit sie ihre Horrorvisionen zum
Schweigen bringt: Sie fällt den Entschluß, mit der S-Bahn
zum Flughafen zu fahren!
Lassen die angstvollen Visionen dann nach, kehrt sie ganz
schnell wieder zu dem ursprünglichen Plan zurück, und
stellt sich vor, ihren Liebsten mit dem Auto vom Flugha-
fen abzuholen.
10 Endlich der Autoschlüssel
Noch dreißig Minuten. Mandi Shilpa macht sich auf die
Schnelle einen Eiskaffee. Aber der besonderen Art! Man-
deln, Milch, Eiskaffeepulver, Eiswürfel, Traubenzucker
und zur Krönung ein kräftiger Schuß Amaretto … das
ganze im Mixer zerhackt und schaumig gerührt…
»Chears, my Darling!« sagt sie mit dem Dauerlächeln im
Gesicht und schnippt mit dem Finger ans Glas als würde
sie anstoßen.
Noch zwanzig Minuten. Die Zeit vergeht zäh, es ist span-
nend zu beobachten, mit welcher Stetigkeit sie voran-
schreitet.
Selbst wenn sie, Mandi Shilpa, nun einfach auf der Stelle
stehen bliebe und sich weigerte zu bewegen, die Zeit
würde weiter gehen. Da gibt es kein Eingreifen. Die Zeit
läßt sich nicht bein ussen. Nicht von den Menschen. Aber
die Zeit nimmt Ein uß auf ihr Leben, dauernd, bestimmt
es mit einem Vorher, zwingt es in die Gegenwart, bannt es
in die Zukunft…
Die Zeit rennt. Wo bleibt Helge Rose mit den Autoschlüs-
seln? Er ist bereits zwei Minuten überfällig. Dann drei
Minuten. Vor dreizehn Minuten versprach er, in zehn Mi-
nuten dazusein … warum meinen die Leute nie, was sie
sagen?
Es klingelt an der Tür. Endlich! Es ist die Werbung. Sie hat
jetzt aber keinen Nerv, den Zeitungsjungen zusammenzu-
stauchen, ob seiner Unverschämtheit immer und ausge-
rechnet jetzt bei ihr zu klingeln.
Kaum hat sie die Wohnungstür hinter sich zugezogen,
klingelt es wieder. Endlich. Es ist Helge Rose. Lachend
springt er die vier Stufen herauf und tritt mit sportiver
Energie herein.
»Hier, als erstes die Schlüssel!« sagt er und fügt spitzbü-
bisch hinzu: »Sonst vergessen wir zwei das noch!«
»Wo ist Olga?« fragt Mandi Shilpa.
»Sie sucht etwas in der Bücherei…«
Nach ein paar Worten ist für beide Zeit zum Aufbruch.
»Bestelle deinem Schatz schon mal schöne Grüße … und
kommt nach dem Flughafen schleunigst zu uns zum Es-
sen!« sagt Helge Rose beim Hinausgehen. Dann fällt ihm
noch etwas ein und er dreht sich kurz um. »Ach, übrigens
das Auto steht links vor dem Haus, es ist eigentlich nicht
zu übersehen…«
11 Das Auto ist nicht zu übersehen!
Wenn Helge Rose sagt, das Auto sei nicht zu übersehen,
vertraut Mandi Shilpa ihm blind. Sie hat keinerlei Zweifel,
daß sie es vielleicht nicht sehen würde.
Es gab also keinen Anlaß, genauer nachzufragen.
Etwa eine Minute nach Helge Rose verläßt Mandi Shilpa
das Haus. Schnurstraks biegt sie nach rechts zur Garagen-
tür, die wie immer ein bißchen klemmt, bevor sie abrupt
aufspringt. In der Garage wirft sie den Abfall in den Con-
tainer. Ein Stück weiter hinten steht ihr Fahrrad. Es sperrt
sich beim Herausziehen zwischen den anderen Fahrrä-
dern. Der Lenker hat sich im Bremskabel des Nachbar-
fahrrads verkeilt…
Als sie die Straße überquert und aufsitzt, wird sie unru-
hig. Auf einmal hat sie es sehr eilig. Nicht, daß ihr die Zeit
Druck macht, nein, noch liegt sie voll im berechneten Mit-
telwert. Aber die schnelle Luft, die ihr bei der Fahrt mit
dem Fahrrad ins Gesicht bläst, weckt den Wunsch, noch
schneller und noch viel schneller zu sein.
Plötzlich ist es ihr schier unträglich, sich den langen Weg
vorzustellen, den sie noch zurücklegen muß, bis sie den
Flughafen erreicht…
Die Ampel an der großen Kreuzung ist kooperativ und
zeigt grünes Licht, als sie sich auf dem Fahrrad nähert. Sie
muß kein einziges Mal anhalten und absteigen, kann in
einem Rutsch durchfahren bis zu dem Haus, in dem Hel-
ge Rose und Olga Sassa wohnen.
Während sie in den Hof einbiegt, um das Fahrrad an der
hinteren Hofmauer abzustellen, blickt sie sich üchtig
um, ob sie das orangefarbene Auto auf die Schnelle ir-
gendwo sieht. Aber sie sieht es nicht, was sie nicht im Ge-
ringsten beunruhigt. Sie hat ja nur üchtig geschaut! Und
außerdem hat Helge Rose versichert, daß es nicht zu
übersehen sei. Dann muß es auch so sein!
12 Der Dackel mit dem schaukelnden Wackelkopf
Nur noch wenige Minuten bis zu dem Zeitpunkt, den sie
als Abfahrtszeit von Helge Roses Haus mit dem Auto er-
rechnet hat.
Sie sperrt ihr Fahrrad ab, durchquert den Hof und gelangt
zum Gehsteig zurück, wo sie gleich nach links abbiegt,
Helge Rose‘s Anweisungen folgend…
Sie verlangsamt ihre Schritte und hält Ausschau nach dem
orangefarbenen Auto…
Es sind alle möglichen Autos dort geparkt, doch keines ist
orangefarben. Sie geht weiter bis zur nächsten Seitenstra-
ße.
Kann es sein, daß sie Helge Rose‘s Auto nicht mehr er-
kennt? Sie ist verwirrt. Vergeblich wirft sie einen ausführ-
lichen Blick in beide Richtungen der Seitenstraße und
nachdem sie es dort nicht sieht, kehrt sie um.
Wenn Helge Rose sagt, daß das Auto fast vor dem Haus
steht, dann muß es auch so sein! Ihre Gedanken sprechen
zu ihr, wie zu einem kleinen Kind. Es tut gut, macht ihr
Mut.
Sie geht jetzt mitten auf der Straße zurück, so kann sie die
geparkten Autos zu beiden Seiten besser inspizieren. Da
sieht sie etwa an der Stelle, die Helge Rose angegeben hat-
te, ein altes Auto von ähnlicher Form, aber der verblaßte
stumpfe Lack wirkt eher Rot als Orange. Hat ihre Erinne-
rung ein Loch? Die Autofarbe war doch orange?
Den Autoschlüssel in der Hand, geht sie auf jenes Auto zu
und bleibt verunsichert davor stehen. Sollte ich vielleicht
einen Versuch mit dem Autoschlüssel wagen, überlegt sie
und blickt sich vorsichtig nach allen Seiten um. Es wäre
äußerst unangenehm, wenn jemand sie dabei beobachtete,
wie sie sich eventuell am falschen Auto zu schaffen
macht.
Weit und breit ist niemand in Sicht. Sie gibt sich einen
Ruck, zückt den Autoschlüssel und versucht ihn blitz-
schnell in das Schloß zu stecken.
Es gelingt nicht. Das Schloß paßt nicht.
Um eine unauffällige Erscheinung bemüht, inspiziert sie
das Wageninnere. Hatten die Sitze beim letzten Mal nicht
andere Überzüge? Ganz bestimmt. Und der Dackel mit
dem schaukelnden Wackelkopf auf der Heckablage! Das
entspricht ganz und gar nicht Helge Rose‘s Geschmack.
Oder soll das etwa ein Witz sein? Unmöglich. Mandi Shil-
pa hatte sich zwar bei der letzten Fahrt in Helge Rose‘s
Auto über den aufgehängten Raumdufter in Form eines
Papier-Tannenbaums gewundert, aber daß er die Innen-
dekoration seines alten geschenkten Autos derart auf die
Spitze treiben würde, liegt außerhalb ihrer Vorstellungs-
kraft.
Sie tritt einen Schritt zurück, steht fast in der Mitte der
schmalen Straße und mustert das Auto. Beim Herumge-
hen sticht ihr das fremdartige Emblem am Kot ügel ins
Auge. Sie kennt es nicht, es ist irgendeine japanische Bil-
ligmarke. Ist Helge Rose‘s Auto nicht ein alter Golf, also
VW?
Sie weiß nicht mehr, was sie glauben soll, ist total durch-
einander. Die Gehsteige sind menschenleer, was eigentlich
nicht ungewöhnlich ist, auch nicht, daß kein einziges
Auto vorbeifährt…
Irgendwie erscheint ihr diese einsame, ausgestorbene At-
mosphäre auf einmal recht seltsam, hat die unverwech-
selbare Stimmung eines Psychothrillers … die Qualität
einer Stille, wenn unerklärliche Phänomene am Werk
sind…
Nein, das kann ja gar nicht sein, sagt sie sich, ich bin doch
hier im richtigen Leben! Und mit einem energischen
Schritt macht sie sich erneut auf die Suche nach Helge Ro-
se‘s orangefarbenem Auto, geht nun in die andere Rich-
tung weiter.
Wahrscheinlich hatte sie Helge Rose‘s Beschreibung ‘links
vor dem Haus‘ nur falsch interpretiert! Sie ist gehörig
durch den Wind, das spürt sie deutlich. Es ist ja kein
Wunder, so kurz vor der Ankunft ihres Verlobten…
Aber hatte Helge Rose nicht gesagt ‘gleich wenn du raus-
kommst links‘? Mandi Shilpa weiß nicht, was sie denken
soll. Wohin sie auch blickt, sie sieht kein orangefarbenes
Auto. Sie geht auch die nächste Seitenstraße in beide Rich-
tungen ab und nochmal ein Stück weiter bis fast zur
Hauptstraße. Es ist unwahrscheinlich, daß er sein Auto so
weit weg parkt, denkt sie, lieber riskiert er einen neuen
Strafzettel, darin kennt sie ihn genau.
Ratlos bleibt sie stehen. Bin ich blind? Oder habe ich den
Verstand verloren? Träume ich? Bin ich vielleicht schon
tot und weiß es nicht? Hatte einen Unfall und kann mich
an den Schreckensmoment nicht erinnern, als es passierte,
weil ich jetzt im Koma bin und träume, all das zu tun, so
wie ich es vorgehabt hatte…
Was für eine schreckliche Version ihres Schicksal. Sie
würde ihren Liebsten nicht mehr in die Arme schließen
können, müßte machtlos mitansehen, wie er vor Schmerz
verging…
Furchtbar! Wie kann sie nur so etwas denken?! Augen-
blicklich appelliert sie an den erwachsenen Anteil ihres
Inneren, vernunftgebietend einzuschreiten und den Spuk
zu beenden. Sie beschließt, aufmerksam zurückzugehen
und diesmal ganz besonders die Augen aufzusperren.
Konzentriert sucht sie beide Straßenseiten ab und steht
bald wieder vor dem Haus ihrer Freunde, ohne ein oran-
gefarbenes Auto gesehen zu haben.
Es ist wie verhext, im ganzen Viertel gibt es nicht ein ein-
ziges orangefarbenes Auto! Für einen Atemzug ist sie wie
gelähmt und plötzlich denkt sie: So kann es nicht weiter-
gehen! Das ist die ganze Botschaft, aber es durchzuckt sie
wie ein Geistesblitz. Egal, was auch immer der Grund ist,
daß sie jetzt das Auto nicht ndet, so kann sie nicht wei-
termachen! Die Zeit rennt ihrer Planung davon…
Mandi Shilpa rennt über den Hof, nestelt währenddessen
nach dem Fahrradschlüssel in der Handtasche, ndet ihn,
erreicht das Fahrrad, sperrt es auf, hängt das Schloß um
die Sitzstange, zieht das Fahrrad zwischen den anderen
heraus, schwingt sich auf den Sattel, strampelt los, Rich-
tung Hauptstraße, zur U-Bahnstation…
Im gleichen Rhythmus der Beine springen die Gedanken
durch den Kopf. Warum sitzt sie jetzt nicht im Auto? Liegt
es an ihrer oder an Helge Rose‘s Dusseligkeit, daß diese
Mission fehlschlug? Ist sie blind? Oder hat Helge Rose
schlicht vergessen, wo er sein Auto geparkt hat? Ist es
etwa gestohlen worden? Oder will sie das Schicksal ein-
fach dazu zwingen, daß sie nicht mit dem Auto, sondern
mit der S-Bahn zum Flughafen fährt?
Hat ihr Verlobter sie nicht ständig darum gebeten, ihn mit
der S-Bahn abzuholen? Sie kann nichts anderes mehr
denken. Wie war das nur möglich?
13
Mandi Shilpa liegt längst nicht mehr in ihrem vorkalku-
lierten Zeitplan. Die Suche nach dem orangefarbenen
Auto hat sie einfach zu viel Zeit gekostet. An der Haupt-
straße angelangt, genügt ein kurzer Blick nach rechts, in
die Richtung, die zurück zu ihrem Haus führt, um eine
blitzschnelle Entscheidung zu treffen. Sie sparte sich eine
Station mit der U-Bahn, wenn sie nach links fuhr…
An der nächsten U-Bahnstation stellt sie das Fahrrad an
das kleine Mäuerchen, sperrt es ab und rennt hinunter.
Vor dem Fahrkartenstempelgerät merkt sie, daß nur eine
volle Fahrkarte in ihrer Geldbörse ist, sie muß sich eine
neue kaufen. Sie ndet nur einen Fünzig-Mark-Schein,
das Kleingeld ist alle. Aber der Fahrkartenautomat wech-
selt lediglich Zehn- und Zwanzig-Mark-Scheine! Ein
Mann und eine Frau stehen jeweils mit einem Geldbeutel
in der Hand dort und kaufen Fahrkarten. Mandi Shilpa
fragt sie mit ehender Stimme, ob sie einen Fünzig-Mark-
Schein klein machen können: Sie können nicht. Nirgend-
wo im Untergeschoß ist ein Kioks. Sie rennt wieder hinauf
und das einzige, was sie auf die Schnelle entdeckt, ist ein
Obststand. Als sie aber davor steht, kann sie keinen Ver-
käufer sehen. Ist er vielleicht kurz weggegangen? Ein paar
Meter weiter telefoniert eine junge blonde Frau in sportli-
cher Kleidung in einer Telefonzelle. Schon wollte Mandi
Shilpa hinlaufen, um sie zu fragen, ob sie wechseln könne,
taucht ein schwarzbärtiges Gesicht hinter den Bananen
auf mit freundlichen Augen. Der Mann ist sehr hilfsbereit
und zögert nicht, sofort in seiner Kasse nachzusehen. In-
dessen er das viele Kleingeld zählt, bedankt sie sich
mehrmals, dann rennt sie mit zwei Zehn-Mark-Scheinen
und sechs Fünf-Mark-Münzen wieder hinunter zum
Fahrkarten-Automaten.
Sie kauft eine Fahrkarte, entwertet sie am Stempelgerät,
rennt die Rolltreppe hinunter und ist dort unten schließ-
lich zum Nichtstun gezwungen, weil die U-Bahn auf sich
warten läßt. Die Frau und der Mann vom Fahrkartenau-
tomaten sind auch noch da. Demnach müßte bald eine U-
Bahn kommen…
Acht Minuten dauert es, bis sie angekündigt wird, weitere
zwei Minuten, bis sie endlich einfährt. Das ist wirklich
nicht normal. Warum ausgerechnet jetzt? Ist vielleicht et-
was passiert?
Es geht zügig weiter, doch dann im nsteren Tunnel wird
die Geschwindigkeit rapide gedrosselt … nein, lieber
Gott, mach daß nichts passiert ist! …wie egoistisch von
ihr, nur damit sie pünktlich den Flughafen erreicht, fängt
sie an zu beten, damit nichts passiert. Und sonst?
Sie schaut aus dem Fenster in die Dunkelheit des Tunnels
und sieht nur ihr Spiegelbild. Keine Durchsage wegen ei-
ner Störung, die Geschwindigkeit nimmt wieder zu und
nach zwei Stationen erreicht sie ohne Zwischenfall den
Hauptbahnhof.
Sie faßt Mut, wird zuversichtlich, denkt an den Obstver-
käufer, der ihr so bereitwillig die fünfzig Mark gewechselt
hat. Er hatte bestimmt die Dringlichkeit in ihrer Stimme
gespürt, denkt sie und ist froh, daß sie solches Glück hat-
te. Zumindest emp ndet sie es so. Das beweist doch im-
merhin, daß man Hilfe ndet, wenn man sie wirklich
braucht…
14 …irgendwo dort oben iegt er…
Am Hauptbahnhof muß Mandi Shilpa in die S-Bahn um-
steigen. Inzwischen ist es achtzehn Uhr, eigentlich wollte
sie, hätte das mit dem Auto geklappt, um achtzehn Uhr
fünfzehn am Flughafen sein…
Seit zehn Minuten wartet sie auf die Airport-Line. Ob-
wohl sie die genaue Abfahrtszeit auf dem Fahrplan able-
sen kann und allem Anschein nach, zumindest hier am
Hauptbahnhof keine Verzögerungen in Sicht sind, ist das
Warten eine Folter. Es ist wie in einer Zwangsjacke, in die
sie das Schicksal gesteckt hat. Warum, das kann sie jetzt
nicht beantworten, sie ist zu nervös. Würde sie jetzt im
Auto sitzen, könnte sie aktiv sein, das tut immer gut,
wenn die Nerven zappeln. Das Lenkrad in ihren Händen
und den Fuß auf dem Gaspedal hätte sie selbst steuern
können! Aber so, angewießen auf die Regeln des öffentli-
chen Transports, ist sie zur Passivität gezwungen. Das ist
Folter. Der Bahnsteig ist zu beiden Seiten überfüllt. Auf
Gleis eins und Gleis zwei stehen Menschen mit Koffern
und Taschen, um in beide Richtungen damit wegzufah-
ren. Bestimmt sind einige mit dem Zug angekommen und
wollen jetzt mit der S-Bahn nach Hause fahren, andere
sind vielleicht gerade vom Flughafen hier angekommen
und müssen hier die Linie wechseln … und der Rest wird
wohl zum Flughafen fahren wie sie selbst… Die anderen
haben Gepäck, sie nicht! Keiner kann erkennen, daß sie
zum Flughafen will! Aber wen interessiert das schon? Sie
ist bestimmt nicht die einzige, die ohne Koffer und Ta-
schen zum Flughafen fährt, doch sicherlich ist sie die ein-
zige, die sich solch einen Krampf zusammendenkt und
die Wartenden am Bahngleis anhand von Koffern und
Nichtkoffern über Ziele und Herkunft studiert! Das ist die
einzige Aktivität, die ihr augenblicklich bleibt in ihrer
Passivitätsfolter. Die unruhigen Nerven brauchen Bewe-
gungsfreiheit. Was soll sie schon tun? Im Slalom durch die
Menschenmassen rennen? Danach zumute wäre ihr …
den Bahnsteig hinunterlaufen bis zu den Rolltreppen und
wieder zurück und immer hin und her… Doch dann
würde sie vermutlich heute nicht mehr den Flughafen er-
reichen, weil die S-Bahn-Sicherheits-Truppe sie einfangen
und für beförderungsuntauglich halten würde… Am
Ende würde sie noch in der Irrenanstalt landen! Nein, das
ist es wirklich nicht wert, sie muß ihre zappelnden Ner-
ven anderweitig beschäftigen…
Plötzlich die Ansage, daß auf Gleis zwei in Kürze die
Bahn zum Flughafen einfährt. In die entgegengesetzte
Richtung? Ist das neu? Mandi Shilpa ist verwirrt, weiß
davon nichts. Vollkommen verunsichert will und kann sie
es nicht glauben. An einem verhexten Tag wie diesem, an
dem sie nicht einmal das orangefarbene Auto von Helge
Rose ndet, das angeblich fast vor dem Haus geparkt sein
soll, ist alles möglich.
Auf der Anzeigentafel erscheint es nun auch, schwarz auf
weiß steht es da, die letzten zwei Waggons fahren zum
Flughafen.
Auf Gleis eins steht gerade ein Zug zur Abfahrt bereit. Sie
läuft zur Führerkabine und fragt den jungen Fahrer, der
ihr bestätigt, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Aber er
hat jetzt keine Zeit mehr, muß die Türen schließen, sich an
seine strenge Abfahrtszeit halten.
Während die Bahn auf Gleis zwei einfährt, hält sie sich an
die Koffer schleppenden Passagiere, die in den vorletzten
Wagen einsteigen. Die wollen sicherlich auch zum Flug-
hafen, schließt sie daraus und folgt ihnen.
Los geht‘s in die entgegengesetzte Richtung, die sie sonst
immer zum Flughafen gefahren war. Ein bißchen mulmig
ist ihr dabei, als sie die ersten Stationen passiert, aber jetzt
gibt es ohnehin kein Zurück mehr.
Zweiundvierzig Minuten dauert die planmäßige Fahrt,
zweiundvierzig Minuten nichts tun können, außer aus
dem Fenster schauen und zugucken, wie sich der Zug
immer weiter auf das Land hinaus frißt. Sie hat nicht ein-
mal ein Buch zum lesen dabei. In ihrer Hand hält sie die
herausgetrennten Seiten aus dem Branchentelefonbuch
mit den Abbildungen eines einfachen Stadtplans und ei-
ner Landkarte der näheren Umgebung und den Beschrei-
bungen von Sehenswürdigkeiten. Das hat sie immer da-
bei, wenn sie mit dem Auto unterwegs ist, für alle Fälle.
Sie zögert, die zerknitterten Seiten aufzuschlagen und ein
bißchen zu lesen…
Was soll das? Im Zug sitzen und den Stadtplan studieren?
Sie kann sich jetzt auf keine Buchstaben und Straßenna-
men konzentrieren, und außerdem, wie sieht das über-
haupt aus!
Der Himmel wechselt ständig sein Gesicht, die Wolken
reißen auf, schließen sich wieder. Viel Bewegung spielt
sich dort oben ab. Sie kann nur dasitzen und neidvoll da-
bei zusehen. Manchmal glaubt sie schneller zu sein, wenn
sie aussteigen und laufen würde. Aber das ist natürlich
reine Einbildung.
…irgendwo dort oben iegt er…
15
Achtzehn Uhr fünfzig. Die S-Bahn ist tatsächlich und
ohne Zwischenfälle zum Flughafen gefahren. Mandi Shil-
pa steht auf der Rolltreppe nach oben, hält Ausschau nach
einem Bildschirm und sieht, daß die Maschine gelandet
ist. ‘Baggage claim‘ blinkt im langsamen Takt auf. Laut
Auskunft muß er schon vor einer halben Stunde gelandet
sein…
Die Tafeln lotsen sie nochmals eine Etage höher zur An-
kunftshalle C. Es tut gut in Bewegung zu sein, so viele
Treppen und Gänge. Wenn es ihr möglich ist, macht sie
alles im Laufschritt…
Nur noch wenige Meter bis zu der Stelle, wo die automa-
tisch sich öffnende Glastür die Passagiere aus dem Sicher-
heitsbereich entläßt. Es ist fast neunzehn Uhr. Viele Men-
schen stehen davor. Beim Heranlaufen sucht sie die Men-
ge mit den Augen ab, beginnt bei der Glastür, schwenkt
langsam nach rechts, wo eine Rolltreppe nach unten
führt…
Von hinten sieht sie ihn dort stehen! Mein Gott, er ist
schon da und nun wartet er auf sie.
Sie sprintet, als ginge es darum, im Ziel die erste zu sein,
fällt von hinten über ihn her…
Er erkennt die zärtliche Attacke sofort, schlingt im Re ex
seine Arme um sie…
Zwischen Begrüßungsküssen und stürmischen Umar-
mungen beginnt sie zu erklären, was sie selbst nicht ver-
stand. Obwohl sie deswegen so aufgeregt ist, scheint ihn
die Sache mit dem unauf ndbaren Auto wenig zu berüh-
ren. Er ist froh, daß sie da ist.
»Ich hab dir doch gleich gesagt, es ist sicherer, wenn du
mit der S-Bahn kommst!«
16
»Wie lange hast du auf mich warten müssen?« fragt sie
auf der Heimfahrt.
»Nicht so lange!« antwortet er. Dank ihrer Neugier erfährt
sie schließlich, daß die Ankunftszeit, die er ihr am Telefon
mitgeteilt hatte, nicht die Landezeit, sondern der von ihm
geglaubte Zeitpunkt war, wenn er dann mit seinem Ge-
päck durch die Glastür des Sicherheitsbereiches heraus-
kommen würde!
Daran hätte sie nie gedacht. Und nun war sie auch noch
zu spät gekommen. Sie macht sich Vorwürfe. Warum hat
das passieren können, trotz der tagelangen Planung?
Eines allerdings ist nicht zu übersehen, denkt sie und hat
nicht nur wegen dem Wiedersehen mit ihrem Verlobten
Schmetterlinge im Bauch: Das Schicksal wollte partout
nicht, daß sie mit dem Auto fährt! So viel ist gewiß. War-
um nicht? Das wird sie nie erfahren…
17
Noch etwa fünfzig Schritte bis zur Haustür. Gemeinsam
schleppen sie die schwere Tasche und die dicke Rolle mit
den bemalten Leinwänden. Als sie aus der U-Bahn aus-
stiegen, hatte Mandi Shilpa erneut damit angefangen, laut
zu überlegen, warum sie Helge Rose‘s orangefarbenes
Auto nicht gefunden hatte.
Er hört zu, was soll er dazu sagen.
»Das kommt vor!« meint er, das Leben ist schließlich vol-
ler Mysterien. Er hat kein Problem damit, die Dinge, die
sich nicht erklären lassen, unerklärlich zu lassen.
Noch etwa vierzig Schritte bis zur Haustür. Plötzlich gibt
er einen Schrei von sich: »Da! Das Auto!«
Mandi Shilpa traut ihren Augen nicht. Da steht Helge Ro-
se‘s orangefarbenes Auto zwischen den anderen Wagen
geparkt vor ihrem Haus.
…gleich links, wenn man rauskommt! Du kannst es nicht
übersehen!
Wie recht Helge Rose hatte, und dennoch, er hätte we-
nigstens dazu sagen können, welches Haus damit ge-
meint war.
…du kannst es nicht übersehen!
Und sie hatte es übersehen, weil sie in ihrer Aufregung
und Eile schnurstraks nach rechts zur Garage gebogen
war, um ihr Fahrrad zu holen…
18
Ein paar Stunden später.
Beim Willkommensabendessen bei Helge Rose und Olga
Sassa spannt Mandi Shilpa die beiden auf die Folter, in-
dem sie erklärt, nach dem Essen eine verrückte Geschich-
te zu erzählen.
»Leider kann ich dir diesmal kein Knöllchen bezahlen!«
beginnt Mandi Shilpa, »denn ich habe dein Auto lediglich
die paar Meter von uns zu euch gefahren…«
»…ööh…« Helge Rose ist perplex, kann damit noch gar
nichts anfangen. Und während Mandi Shilpa von Anfang
an die Geschichte erzählt, wie sie zu seinem Haus gera-
delt ist, sein Auto erfolglos gesucht hat, mit der S-Bahn
zum Flughafen gefahren war, sinkt er immer tiefer unter
den Tisch vor lauter schlechtem Gewissen.
19 Die Glasscherbe ist schuld
»Du liebe Zeit…!« ruft Helge Rose aus und schlägt sich an
die Stirn.
»Und das alles nur wegen meinem Plattfuß im Fahrrad!«
erklärt Olga Sassa, »Die Glasscherbe ist schuld!«
»Was für eine Scherbe?« fragt Mandi Shilpa.
»Das weiß ich auch nicht, ich hab sie nicht gesehen, aber
es muß eine Scherbe im Hof gewesen sein…«
Helge Rose löst Olga Sassa ab:
»Am Nachmittag waren wir mit dem Rad unterwegs und
da war noch alles in Ordnung; und als wir dann später
erneut loswollten, um einzukaufen und dir die Schlüssel
zu bringen, da hatte Olgas Rad einen Platten…«
Olga Sassa löst Helge Rose ab:
»Zuerst wollten wir zu Fuß los, um dir die Schlüssel zu
bringen, bis uns dann ein el, daß wir ja genausogut mit
dem Auto fahren könnten … und dir das Auto praktisch
schon vor die Tür stellen…«
»Verdammt, wie kann ich so bescheuert sein, das nicht
dazu zu sagen?!« Helge Rose schlägt sich noch heftiger an
die Stirn.
»Wer weiß, wofür das gut war!« sagt Mandi Shilpa und
meint dann lachend:
»Zur Strafe gibt‘s jetzt einen feinen Averna mit Eis und
Zitrone!«
Ihr Verlobter nickt, eine gute Idee. Er hatte die ganze Zeit
nichts dazu gesagt. Was kann er dazu schon sagen? Ir-
gendwie ndet er es völlig normal, daß das Leben voller
Geheimnisse ist.
Sie stoßen miteinander an, auf das Wiedersehen und das
gute Essen und auf das Mißverständnis, das diese Ge-
schichte geschaffen hat…
Olga Sassa wiegt ungläubig den Kopf und sagt: »…die
Glasscherbe ist schuld!«
Mandi Shilpa hält inne und entgegnet:
»Nein, nein, es ist das Schicksal…«
Comments